In einer unscheinbaren Fabrikhalle im Nordwesten Frankreichs ist ein brisantes innenpolitisches Problem Deutschlands zwischengelagert. Seit mehr als zwei Jahren warten sechs rund 110 Tonnen schwere Castor-Behälter mit Atommüll in der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague auf ihren Transport nach Gorleben. Eine Kleinigkeit im Vergleich zu weiteren 163 "Castoren", die vertragsgemäß nach Deutschland gebracht werden müssen.
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Der französische Premier Lionel Jospin verlangt jetzt vom deutschen Kanzler Gerhard Schröder Klarheit darüber, wann die hochradioaktiven Spaltprodukte endlich abgeholt werden - bis dahin bleibt die Anlieferung abgebrannter Brennelemente aus deutschen Kraftwerken ausgesetzt.
Die sechs weiß lackierten Streitobjekte, deren strahlender Inhalt die Kühlrippen auf Heizungstemperatur erwärmt, sind aber nur Vorboten einer Welle von Atommülltransporten, die in den nächsten zehn Jahren aus La Hague rollen soll: Nicht weniger als 163 Castoren füllt der hochradioaktive Abfall, den die deutsche Atomindustrie nach geschlossenen Verträgen fortschaffen muss. Und in den nächsten 20 Jahren sollen gar noch mehr als 300 Castor-Behälter mit mittelradioaktivem Inhalt nach Deutschland zurückgeholt werden.
"Nicht die Menge ist das Problem, sondern dass das System nicht richtig funktioniert", sagt Bernard Lenail. Der Vertriebsdirektor der Cogema, die die Wiederaufarbeitungsanlage betreibt, ist gar nicht glücklich über seinen größten ausländischen Kunden: "Es muss doch möglich sein, zwischen zwei Wahlen in Deutschland zumindestens einen Transport durchzuführen", wundert sich der Franzose, in dessen Land die Atomabfälle bisweilen von nur einem Polizisten auf dem Motorrad begleitet zum Bahnhof gefahren werden. Die deutschen Castor-Behälter haben der Wiederaufbereitungsanlage sogar Ärger mit der französischen Justiz eingebracht: Es läuft ein Ermittlungsverfahren, da ein Gesetz die Lagerung importierter radioaktiver Abfälle "über die durch die Wiederverarbeitung bedingten technischen Fristen hinaus" verbietet.
Die deutsche Atomindustrie sitzt derweil gewissermaßen auf heißen Kohlen. Nach der jahrelangen Aussetzung der Nukleartransporte wegen des Strahlenskandals sind die Lagerkapazitäten weitgehend ausgeschöpft. In La Hague ist alles für die erste Ladung abgebrannter Brennelemente aus dem AKW Philippsburg vorbereitet. Wenn die politischen Schwierigkeiten ausgeräumt sind und sich der deutsche Atommüll im französischen Behälter seinen Weg durch die Demonstranten gebahnt hat, wird er in La Hague erst einmal wieder jahrelang gelagert. In großen Wasserbecken klingen die alten Brennelemente weiter ab, bis die eigentliche Wiederaufarbeitung beginnen kann. Dazu werden sie in zentimetergroße Stücke zersägt und anschließend in Säure gelöst. Spaltprodukte, das hochgiftige Plutonium und Uran werden chemisch getrennt. Als Abfall fallen nur die Spaltprodukte an, die bei 1.100 Grad verglast und einen Stahlmantel gegossen werden. Diese so genannten Glaskokillen kühlen wiederum jahrelang ab.