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Attacke auf die europäische Rechtsprechung

Von Otmar Lahodynsky

Gastkommentare
Otmar Lahodynsky war bis 15. Februar Internationaler Präsident der Association of European Journalists (AEJ). Er war Redakteur beim Nahrichtenmagazin "profil".
© Ralph Manfreda

Das jüngste deutsche Höchstgerichtsurteil ist für die EU brandgefährlich.


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Die Europäische Union sollte sich eigentlich jetzt mit der Wiederbelebung der durch Covid-19 darniederliegenden Wirtschaft beschäftigen. Doch am 6. Mai 2020 erfolgte ein böses Foul aus Karlsruhe. Das deutsche Bundesverfassungsgericht stufte in einem Urteil den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) als unzulässigen Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz ein.

Die Notenbank hätte auch auf die wirtschaftlichen Folgen für Sparer und Immobilienpreise achten müssen, hieß es in der Begründung aus Karlsruhe. Der EZB-Rat müsse nun in einem neuen Beschluss zeigen, dass das Kaufprogramm verhältnismäßig sei. Dass der EUGH bereits Ende 2018 das milliardenschwere Ankaufsprogramm der EZB als rechtmäßig eingestuft hatte, war für das deutsche Höchstgericht nicht mehr bindend.

Karlsruhe rüttelte damit heftig an den Grundpfeilern der EU-Rechtsordnung. So ließ der Applaus aus Polen und Ungarn auf das Urteil aus Karlsruhe nicht lange auf sich warten: Wenn Deutschland Urteile des EU-Höchstgerichts nicht beachten dürfe, dann gelte das doch auch für rechtsautoritäre Regierungen in Warschau und Budapest, die wiederholt von den Luxemburger Richtern Rüffeln für Verstöße gegen EU-Regeln einstecken mussten.

"Ein absoluter Vorrang des europäischen Rechts ohne Wenn und Aber ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar", verteidigte der deutsche Höchstrichter Peter Michael Huber das von ihm mitverfasste Urteil. In ihrer Rechtssprechung haben die deutschen Richter freilich selten das Wohl der gesamten Europäischen Union, sondern meist nur das Interesse deutscher Institutionen wie des Bundestags beachtet. So erscheint es seltsam, wenn die Karlsruher Richter das Interesse der deutschen Sparer, Mieter und Pensionisten hervorheben. Finanzprobleme von EU-Staaten, die oft gar nicht selbst verursacht sind, scheinen den Karlsruher Talarträgern egal zu sein.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte klar, dass europäisches Recht nur vom EUGH verbindlich gesprochen werden dürfe. Die EU-Kommission hat zudem ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland angedroht.

"Das Urteil des deutschen Höchstgerichts ist brandgefährlich", kritisiert der frühere österreichische EU-Kommissar Franz Fischler. "Mit welchem Recht erheben sich diese Richter - offenbar in typisch deutscher Überheblichkeit - über den Europäischen Gerichtshof?" Auch Fischler sieht die gemeinsame Rechtsordnung der EU in Gefahr, wenn nationale Gerichte meinen, Urteile des EU-Höchstgerichts nicht mehr befolgen zu müssen. Autoritär regierende Politiker wie Premier Viktor Orbán in Ungarn oder Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Polen würden nur noch ihre nationalen Höchstgerichte zur Beurteilung ihrer Politik heranziehen. Wie unabhängig diese noch agieren können, müsste auch den deutschen Verfassungsrichtern bekannt sein.

Wie zum Beweis ihrer Unabhängigkeit hat die EZB ihre Anleihenkäufe fortgesetzt. Nur eine Woche nach dem Karlsruher Urteil wurden Papiere für rund 45 Milliarden Euro aufgekauft, ein Rekordwert.