Belgien, England und die Schweiz: Lieblingsorte der Steuerflüchtlinge.
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Paris/Brüssel. Als mit François Mitterrand 1981 ein Sozialist zum Präsidenten Frankreichs gewählt wurde, fürchteten sich viele vor der Ankunft russischer Panzer auf französischem Boden. Mitterrand werde dem Kommunismus Tür und Tor öffnen und über das Land eine Steuerflut einbrechen lassen, hieß es. Damals erlebte das Land eine Welle überstürzter Emigration. 31 Jahre später hat Frankreich mit François Hollande zum ersten Mal wieder einen sozialistischen Präsidenten. Die alten Ängste gehören zwar der Vergangenheit an, doch die Furcht vor einer Steuerflut ist zurückgekehrt. In Frankreich spürt man erneut den Drang zur Auswanderung.
Acht Milliarden Euro muss Frankreich einsparen, um einen Bankrott zu vermeiden. Die Lösung, so die neue Regierung, befindet sich in Steuererhöhungen für Spitzenverdiener und Großunternehmen. Allein die Vermögenssteuer ISF - eine Sonderabgabe - soll bis Jahresende 2,3 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen.
Konsequenz: Immer mehr wohlhabende Franzosen entscheiden sich, ins Ausland zu flüchten. Die französischen Zeitungen quellen über vor Interviews entschlossener Auswanderer. Unter ihnen Lotfi Belhassine. Aus Angst vor der angekündigten Reichensteuer in Höhe von 75 Prozent für Vermögen ab einer Million Euro ist
er nach Belgien ausgewandert. "Ich hatte nur die Wahl zwischen dem Betrug oder der Flucht", sagte der Unternehmer in einem Interview. "Da bin ich lieber weggegangen." Belhassine ist Teil einer neuartigen "Emigrationswelle", und die bewegt sich Richtung Belgien.
Auch "Ärmere" fliehen
ins belgische Dorado
Avenue Moliere, Avenue Charles de Gaulle: In den feinen Gegenden von Uccle und Ixelles in Brüssel klingen nicht nur die Straßen nach Frankreich. In der kleinen "French Town" sind kaum Belgier anzutreffen. In diesen Vierteln ist das Phänomen Steuerflucht deutlich spürbar.
Dort lebt die Französin Stephanie Sellier: Vor zwei Jahren hat sie das soziale Netzwerk French Connect gegründet, dessen Ziel es ist, Belgier mit Franzosen in Kontakt zu bringen. Sie organisiert Treffen und gibt praktische Ratschläge, um einen Umzug zu erleichtern. Viele Franzosen kommen zu ihr, um sich finanzielle Ratschläge zu holen.
Selliers Kunden waren früher meist wohlhabende Geschäftsleute. Doch in letzter Zeit hat sich ihre Klientel erweitert. "Seit ein paar Monaten kommen auch Leute, mit geringem Vermögen", sagt die Unternehmensleiterin gegenüber der "Wiener Zeitung". "Viele machen sich Sorgen um ihre finanzielle Lage und kommen zu mir, um sich zu erkundigen, wie das Steuersystem hier in Belgien aussieht."
England rollt
den roten Teppich aus
Diesen Trend hat auch Steuerberater Bernard Carlier bemerkt. Um auf diese Anfragen zu reagieren, hat er die Website Joptimiz.com - Referenz-Anlaufstelle für auswanderungswillige Franzosen - eingerichtet. Schon vor den Wahlen in Frankreich fiel ihm das gesteigerte Interesse an der Steuerflucht auf. "Die Nachfrage ist seither monatlich um 30 Prozent gestiegen", sagt Carlier.
Für ihn gibt es drei Formen der reichen Emigration: die Superreichen - deren Vermögen sich auf zehn Millionen und mehr beläuft. Sie flüchten normalerweise in die Schweiz. Diejenigen mit Geldmitteln von drei bis zu zehn Millionen gehen nach Belgien. Und die "Normalverdiener" flüchten nach Großbritannien.
Die Flucht nach England ist oft dem Umstand geschuldet, dass die Unternehmen - und mit ihnen ihre Angestellten - nach England umziehen. Dort sind die Arbeitnehmerkosten zwei Mal niedriger als in Frankreich. Der Zuzug ist mehr als willkommen. Vor drei Wochen sagte Premier David Cameron, er rolle den roten Teppich aus für französische Steuerflüchtlinge und hieß noch mehr französische Unternehmen in Großbritannien willkommen.
"Eher beruhigende Info
als konkrete Vorhaben"
Französische Massenflucht: Alles Hysterie, oder doch eine echte Tendenz? Es gibt 200.000 zugezogene Franzosen in Belgien. Darunter sind zwischen 2000 und 5000 Steuerflüchtlinge - offizielle Schätzungen gibt es nicht. Im Kampf der französischen Regierung gegen die Steuerflucht stellt diese - an sich nicht sehr hohe - Zahl dennoch ein Symbol der Ungleichheit und Staatsverschuldung dar.
Stephanie Sellier findet, dass die Darstellung des Phänomens übertrieben ist: "Es gibt schon ein großes Interesse. Von einem massiven Zustrom von Zuzüglern kann aber nicht die Rede sein. Die Leute, die ich berate, suchen nach Informationen, aber wenige schreiten zur Tat." Sie hätten "keine konkreten Vorhaben" und seien "eher beunruhigt", so Sellier. "Auswandern ist keine leichte Sache", fügt sie hinzu, "das bedeutet, die ganze Familie auszusiedeln." Sie wirft den Steueranwälten vor, die Angst der Menschen auszunützen, um sich selbst zu "Frankreich-Spezialisten" auszurufen. "Viele haben da eine lukrative Marktlücke gefunden", sagt sie.
Um die Flucht ins Ausland zu unterbinden, haben letzte Woche François Hollande und seine Parlamentsmehrheit eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die dazu beitragen sollen, die Steuerschlupflöcher für Auswanderer zu schließen. Wer nicht in Frankreich lebt, soll künftig eine Sozialabgabe in Höhe von 15,5 Prozent auf Einkünfte aus französischem Grundbesitz zahlen, wozu auch ein allfälliger Verkauf zählt. Das Schulgeld für die französischen Kinder, die in einer französischen Schule im Ausland eingeschrieben sind, wird der Staat künftig nicht mehr übernehmen.
Ob diese Maßnahmen ausreichen werden, die Steuerflucht zu stoppen? Bernard Carlier hat jedenfalls versichert, schon eine Möglichkeit gefunden zu haben, diese Gesetze zu umgehen und das Geld seiner Kunden möglichst gewinnbringend anzulegen. Die Immobilienmakler der Brüsseler Nobelviertel wird das wohl beruhigen.
Die russischen Panzer sind 1981 nicht - wie befürchtet - gekommen, nachdem François Mitterrand Präsident wurde. Was dennoch folgte, war der Exodus vieler reicher Franzosen. Zählt man das durch Steuerflüchtlinge entgangene Vermögen zusammen, so könnte man heute ein Viertel der Staatsschuld Frankreichs in Höhe von 1600 Milliarden damit abdecken. Dass sich die Geschichte wiederholt, wird Präsident François Hollande versuchen zu verhindern. Dabei kommt allerdings ein Drahtseilakt auf ihn zu. Er muss das große Geld im Land halten, ohne dabei sein Versprechen zu brechen, nicht mehr der Präsident der Reichen, sondern des Volkes zu sein.
Reiche Franzosen auf der Flucht
Sie sind reich, sie sind berühmt, und sie haben sich entschieden, dem französischen Staat (fast) keine Centime mehr zu geben.
Eine kleine Übersicht.
Familie Peugeot: Während der französische Autohersteller 8000 Mitarbeiter abbaut, verbringt die ganze Familie glückliche Tage in der Schweiz. Geschätztes Vermögen: 1,6 Milliarden Euro.
Yannik Noah: Der Ex-Tennisstar sollte sich im Juni wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung rechtfertigen. Das französische Finanzamt verlangt von ihm 580.000 Euro für das Jahr 1993. Sinnlos, meint der Sportler, da war er schon in der Schweiz.
Johnny Hallyday: Der berühmteste Rock-Star Frankreichs ist auch der bekannteste Steuerflüchtling des Landes. In der stillen Schweizer Stadt Gstaad profitiert der Sänger von einem vorteilhaften Steuerabkommen.
Charles Aznavour: Der Sänger lebt seit den 1970ern in der Schweiz und hat vor einem Jahr für Polemik gesorgt, als er erklärte: "Die Reichen müssen mehr besteuert werden."
Éric-Emmanuel Schmitt: Der Filmemacher, Träger des deutschen Publikumspreises, hat Belgien ausgewählt. Er sagt über seine Wahlheimat: "Belgien ist ein warmherziges Land . . . trotz seines Klimas."