Trotz allem bleibt die Situation in Europa angespannt, die Stunde der Populisten schlägt weiter.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Und wieder atmet das Establishment auf und feiert einen Sieg über Populismus und Euroskeptizismus. Marine Le Pen wird wohl nicht Präsidentin der Grande Nation werden. Norbert Hofer wurde ebenso wenig österreichischer Bundespräsident wie Geert Wilders niederländischer Premierminister. Die AfD wird nicht Teil der nächsten deutschen Bundesregierung sein.
Dennoch bleibt die Situation angespannt, die Stunde der Populisten schlägt weiter. Frankreich wirkt wie ein Brennglas, in dem sich die gesamteuropäische Situation verdichtet. Die Auseinandersetzung zwischen den etablierten Parteien der Mitte, die klassische Lagerbildung zwischen Sozialdemokraten auf der einen und Christdemokraten beziehungsweise Konservative auf der anderen Seite ist europaweit zum Nebenaspekt geworden. Die traditionsreichen Parteien der Mitte verlieren ihren Rückhalt in der Gesellschaft, wirken inhaltlich und personell ausgedünnt. Anti-Establishment-Bewegungen von rechts- und links-außen beziehungsweise ohne ideologischen Ballast sind auf dem Vormarsch. Frankreich zeigt das besonders drastisch: Erstmals in der Geschichte des Landes gelangten beide Parteien, die die Französische Republik bisher bestimmt haben, nicht in die Stichwahl. Und erstmals wird der Präsident kein Kandidat einer der beiden Parteien sein. Niemals zuvor haben die beiden Hauptformationen zusammengerechnet ein so schwaches Ergebnis eingefahren. Emmanuel Macron wird wohl der nächste französische Präsident.
Es braucht eine proeuropäische Bewegung
Immerhin scheint nun klar: Auf die rechtspopulistische Bewegung und die schleichende Trumpetisierung auch in Europa lässt sich nur mit einer proeuropäischen Bewegung antworten. Ein erstes zartes Pflänzchen ist mit "Pulse for Europe" entstanden. Die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse durch Migration und Digitalisierung werden Populisten weiterhin Nährboden geben. Den Etablierten bleibt nur noch wenig Zeit für Deeskalation. Ohne eine wirtschaftliche Neubestimmung des liberalen Systems wird es nicht gehen. Schließlich haben die Bankenkrise, die Abhängigkeit von den Finanzmärkten und die Euro-Krise das Vertrauen ins kapitalistische System nachhaltig erschüttert.
Mit dem Populismus nimmt auch die Verunsicherung an den Märkten zu. Momentan scheint das westliche Demokratiemodell nicht mehr so attraktiv, dass an eine weitere Ausbreitung zu denken ist. Für eine bessere Handlungsfähigkeit der EU müssten spätestens nach der deutschen Wahl im Herbst die nötigen Vertiefungsschritte eingeleitet werden. Erfolg kann sich aber nur einstellen, wenn es auch um das Selbstverständnis geht. In der Griechenland-Krise war ein "deutsches Europa" im Sinne einer strengeren Haushaltsdisziplin dominant; im Zuge der Flüchtlingskrise hat sich das Bild geändert. Nach dem Brexit-Schock droht nun erst einmal Stillstand. Ein neuer Anlauf für eine Europäische Verfassung wäre eigentlich unabdingbar, um etwa eine Insolvenzordnung für Mitgliedstaaten der Eurozone und ein verbindliches Asylsystem festzuschreiben. Schließlich stammt der geltende Vertrag von Lissabon aus der Zeit vor Euro- und Flüchtlingskrise. Ob Präsident Macron dafür die Weichen stellen kann?