Wissenschafter zählen Sonneflecken und schauen Genies beim Erblühen zu.
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Wien. Das Pechtropfen-Experiment zählt zu den langsamsten der Welt. Alle sieben bis zwölf Jahre löst sich dabei ein Pfropfen der teerartigen Substanz aus einem Trichter. Über die Jahre hinweg hatten die Forscher dieses Ereignis allerdings immer verpasst. Erst vor wenigen Tagen ereilte sie das Glück des Moments, dem Pech beim Fallen zusehen zu können.
Doch warum bloß haben Forscher 87 Jahre darauf gewartet, dass ein Tropfen Pech aus einem Trichter fällt? Das Experiment wurde 1927 von Thomas Parnell, dem ersten Physik-Professor der australischen Universität Queensland, gestartet. Das Biografische Lexikon Australiens führt Parnell als wenig enthusiastischen Forscher, jedoch engagierten Lehrer an. Zu Unterrichtszwecken wollte er seinen Studenten demonstrieren, dass das Teer-Destillat bei Zimmertemperatur zwar augenscheinlich fest ist, sich aber dennoch wie eine Flüssigkeit verhält.
Die langsamste Sanduhr
Erkaltetes Pech ist so spröde, dass man es mit einem Hammer zerschlagen kann. Nichtsdestotrotz rinnt es nach unten wie die langsamste Sanduhr der Welt. Parnell goss erwärmtes Pech in einen unten verschlossenen Trichter und ließ den Stoff darin drei Jahre setzen. 1930 öffnete er den Trichter und das Pech begann zu fließen: Der erste Tropfen fiel 1938, weitere 1947, 1954, 1962, 1970, 1979, 1988, 2000 und schließlich jetzt. Als Brutstätte für Entdeckungen entpuppt sich das Experiment allerdings nicht. Magerer Ertrag ist eine einzige Fachpublikation, in der die Physiker berechnen, dass das verwendete Pech zwei Millionen Mal zäher als Honig und 230 Milliarden Mal zäher als Wasser ist. Außerdem hatten Temperaturschwankungen Einfluss auf die Tropfenfolge: Als eine Klimaanlage installiert wurde, löste sich das Pech nicht im Sommer, sondern in der Heizsaison. Thomas Parnell wurde posthum zusammen mit seinem Nachfolger John Mainstone mit dem "Ig-Nobelpreis" ausgezeichnet für wissenschaftliche Leistungen, die nicht wiederholt werden sollten.
Mainstone zufolge ist der Wert des Pechtropfen-Experiments weniger wissenschaftlich als historisch-kulturell zu sehen. Es hätte Bildhauer und Dichter inspiriert, den Verlauf der Zeit und das Tempo des modernen Lebens zu thematisieren. So gesehen erfüllt die Arbeit eine ähnliche Funktion wie das langsamste Konzert der Welt: Mit Hilfe von Sandsäckchen, die die Tasten fixieren, wird in der St. Burchardi-Ruine im deutschen Halberstadt seit 2001 ein halbstündiges Orgelstück so langsam gespielt, dass es länger dauert als -zig Menschenleben. Die Interpretation des Künstlers und bekennenden Anarchisten John Cage ist auf 639 Jahre angelegt.
Doch Pech ist nicht der einzige zeitaufwendige Forschungsinhalt. Vielleicht etwas weniger fest von der Muse geküsst, aber dafür von hoher wissenschaftlicher Nachhaltigkeit, ist die Beobachtung von Sonnenflecken. Die dunklen Stellen auf der Sonnenoberfläche sind kühler und strahlen weniger sichtbares Licht ab als der Rest der Oberfläche. Ihre Zahl und Größe ist ein Maß für die Sonnenaktivität, ihre Häufigkeit unterliegt einem Zyklus von durchschnittlich elf Jahren. Als Ursache gelten Magnetfelder.
Seit der Erfindung des Teleskops vor 400 Jahren betrachten Astronomen diese Sonnenflecken. 1848 begann der Schweizer Astronom Rudolf Wolf, die Beobachtungen zu systematisieren. Er entwickelte eine Formel zu Berechnung ihrer Zahl, die noch heute verwendet wird. Seit 2011 kuratiert das Königliche Observatorium in im belgischen Uccle die Zählung, im Bestand sind Fotos und Zeichnungen aus 500 Observatorien seit 1700. "Die Daten sind von unschätzbarem Wert zur Vorhersage der Sonnenaktivität", betont Leif Svalgaard, Physiker der Standford University. Die Aktivität der magnetischen Flecken kann sich auf die Funktion von Satelliten und technischen Geräten auswirken. Rund 200 Publikationen berufen sich auf die Daten der Langzeit-Zählung, die zu zwei Drittel von Amateuren stammen.
Als glücksbringend, im Sinne von lebensrettend, könnten sich die Daten zur Aktivität des Vesuv entpuppen. Bei seinem letzten Ausbruch im Jahr 79 vernichtete der Vulkan Pompeji. Und bei seinem Ausbruch davor, vor 3800 Jahren, spuckte er glühende Lava über das gesamte Gebiet des heutigen Neapel. Das Vesuv-Observatorium ist die älteste Vulkan-Forschungsstation. Seit 1841 wacht sie über ihrem ungastlichen Studienobjekt. Während sie früher 600 Meter vom Vulkan entfernt lag, arbeiten die Forscher heute mit ferngesteuerten Sensoren und Frühewarnsystemen von Neapel aus.
Sammlung von Lebensdaten
Als Geschichtsdokument der Psychologie entpuppt sich der Versuch, Genies bei ihrer Entwicklung zuzusehen. 1921 hatte der US-Psychologe Lewis Terman von der University of Stanford begonnen, 1500 Kinder zu beobachten, die nach einem von ihm entworfenen IQ-Test hochbegabt waren.
Terman wollte die damals gängige Annahme widerlegen, Hochbegabte seien kränklich und sozial zurückgeblieben. Fast neun Jahrzehnte lang führten er und seine Nachfolger Buch über die Leben, Ausbildungen, Interessen, Fähigkeiten und Persönlichkeiten der Testpersonen. Die Methodik wurde kritisiert, denn 90 Prozent der Probanden waren weiß und Angehörige der Oberschicht. Dennoch wurde die Studie von der Fachwelt nicht gänzlich vernichtet. Wenn sie auch lückenhaftes Wissen über Genies vermittelte, hatte Terman das Glück, dass seine Kollegen in dieser ersten Sammlung von lebenslangen Daten einen Beweis für den Zusammenhang von Umsicht und der Länge des Lebens erkannten.
Wie sich also zeigt, ist nicht nur das Pech, sondern auch das Glück langsam. Und es erscheint oft in einem ganz anderen Kleid als erwartet oder erhofft.