Ständig werden neue Krankheitsgene gefunden, doch maßgeschneiderte Medizin bleibt aus. | Einfluss der Umwelt auf Erbanlagen ist größer als bisher angenommen. | Wien. "Risiko-Gen für Osteoporose entdeckt"; "Methusalem-Gen gefunden"; "Schwamm und Mensch haben gemeinsame Gene, die für Tumore entscheidend sind": Kaum eine Woche vergeht, in der Forscher nicht die Entdeckung neuer Krankheitsgene verkünden. 500 Gene dirigieren den Takt des Herzens, hunderte tragen dazu bei, ob ein Lebewesen lange lebt oder früh stirbt, und 20 Gen-Varianten verursachen Diabetes mellitus Typ-2. Die Suche nach Genen hat längst die Medizin erobert und manche Gene erklären sogar die Sinnfrage.
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Denn auch sexuelle Orientierung und Religiosität sind bis zu einem gewissen Grad auf genetische Variationen zurückzuführen, verdeutlicht Humangenetiker Markus Hengstschläger in seinem Bestseller "Die Macht der Gene". Auch Mozarts musikalischer Sieg über Salieri war demnach ein Sieg der Gene, da beide mit ähnlichen Voraussetzungen aufwuchsen.
Trotz dieser Erkenntnisse werden Zweifel an der vielversprechenden Wissenschaft immer lauter. Noch hat sie die erhoffte Revolution in der Behandlung von Krankheiten nicht gebracht. Denn die Erforschung der Gen-Funktionen ist komplexer als angenommen. Die Art und Weise, wie der menschliche Körper reagiert, hänge nicht nur von den Eigenschaften der einzelnen Erbgutträger ab, sondern auch von deren Rolle im Gesamtsystem, erklärt der Wiener Molekularbiologe Josef Penninger. Bis zu einer maßgeschneiderten Medizin wird es also noch eine Weile dauern. Und wahrscheinlich an den Kosten scheitern.
Vor welchem Rätsel die Forscher stehen, lässt sich am Beispiel der Körpergröße festmachen. Fast 90 Prozent der Größe eines Menschen lassen sich auf die Erbanlagen zurückführen. Doch die 50 bisher gefundenen Gen-Varianten, die damit zusammenhängen, erklären nur fünf Prozent der Größen-Unterschiede. Offenbar gibt es noch andere Schaltstellen im Erbgut, die den Forschern bisher verborgen geblieben sind. Ähnlich unvollständig sind die Erkenntnisse zu den großen Volkskrankheiten - etwa erklären die 20 Genvarationen für Diabetes Typ 2 nur drei Prozent des hochgradig erblichen Risikos.
"The case of the missing heritage" - der Fall der fehlenden Erblichkeit - beherrscht die Fachkonferenzen. Unstrittig ist, dass Risiko-Gene für Alzheimer, Asthma oder Rheuma existieren. Jedoch hängt die Gefahr, tatsächlich daran zu erkranken, von einer Vielzahl von Faktoren ab. Zudem legen derzeitige Gen-Scanning-Methoden ein zu grobes Raster an, betont der Populationsgenetiker David Goldstein im "New England Journal of Medicine". Studien, mit denen nach häufigen Risiko-Genen gesucht wird, erfassen nicht das vollständige Genom, sondern zielen auf verräterische Muster im Erbgut ab, die nur einzelne Genbausteine betreffen. Wie eine automatisierte Rasterfahndung, die nur nach Bergen auf der Landkarte sucht, den Rest der Topografie aber links liegen lässt und dabei seltene Gendefekte übersieht.
Doch möglicherweise ist der Einfluss der Gene überhaupt viel geringer als angenommen. Einer neuen Theorie zufolge spielen Umwelteinflüsse eine größere Rolle für Langlebigkeit, Intelligenz, Übergewicht oder Gelassenheit. Auch die genetische Anfälligkeit für Krebs oder die angeborene Verwundbarkeit für Depression werden demnach überschätzt. "Analysen des Genoms sind so aussagekräftig wie Kristallkugeln zum Wahrsagen", betont Jörg Blech in seinem Buch "Gene sind kein Schicksal".
Erbgut lässt uns Spielraum
Vielmehr seien die Gene "wunderbar wandelbar" und fähig, aus Erfahrungen zu lernen. Worauf es dabei ankommt, sind die epigenetischen (über den Genen liegenden) Mechanismen, die das Verhalten der Gene steuern. Bei der epigenetische Vererbung gestaltet die so genannte DNA-Methylierung die Nutzung des Erbguts, ohne die Abfolge seiner Grundbausteine (DNA-Sequenz) zu verändern. Soll heißen: Die Methylierung kann die Wirkung eines Gens verändern, ohne dessen Inhalt abzuwandeln. Epigenetische Muster werden zudem an die Tochterzellen weitergegeben, wenn sich eine Körperzelle teilt - der Körper hat ein Gedächtnis. Neben der "harten" Vererbung der Gene selbst gibt es eine "weiche Vererbung durch die Epigenetik. Diese Prägung ist nicht fixiert, sondern kann durch äußere Einflüsse verändert werden.
In einer in "Nature Neuroscience" veröffentlichten Studie an Ratten konnten Forscher der Mc Gill Universität in Montreal zeigen, wie die Umwelt dem Erbgut ihren Stempel aufdrückt. Ratten-Babys, die von ihrer Mutter liebevoll großgezogen wurden, waren als Erwachsene eher gegen Stress resistent als Babys liebloser Mütter. Die Wissenschafter nahmen zudem Babys aus dem Wurf einer hartherzigen Mutter und gaben sie in die Obhut einer liebevollen Mama. Die adoptierten Babys wurden später genau so gelassen wie die leiblichen Kinder der liebevollen Mutter. Den Forschern zufolge führe die Epigenetik zu einem neuen Verständnis davon, wie Krankheiten entstehen. Ständiger Stress, Drogen oder Umweltgifte hinterlassen Spuren im Erbgut von Nervenzellen - und begünstigen so womöglich Angststörungen oder Depression.
In diesem Sinn lässt uns das Erbgut bei der Bekämpfung von Krankheiten einen großen Spielraum. "Die Epigenetik besagt im Besonderen auch, dass dramatische Erfahrungen, die etwa unsere Großeltern gemacht haben, auch in unserem Gehirn Markierungen hinterlassen", erklärt Brigitte Gross, Psychotherapeutin mit 25-jähriger Erfahrung im Bereich Familien-Aufstellungen.
Wer ein Verhalten ändern möchte, das er als Kind gelernt hat, müsse zunächst erkennen, wann und wodurch das Verhalten entstand und dass es damals Sinn hatte. Ein neues, erwünschtes Verhalten müsse dann bewusst geübt werden, sodass neue Markierungen entstehen können. Dass jedoch liebevolle Adoptiveltern alles ändern können, was lieblose leibliche Eltern zerstört haben, sei nicht garantiert, betont Gross: "Nicht immer werden früh erlebte Erfahrungen durch spätere Erfahrungen gelöscht. Denn die Programme, die durch die Epigenetik in Gang gesetzt werden, wirken auch im Unbewussten."