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Auch ohne den Osten lebensfähig

Von Gerhard Lechner

Politik

Kiew würde einen Abfall der Gebiete um Donezk überleben: Der Osten der Ukraine zählt zu den Nettoempfängern.


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Kiew. Könnte eine Föderalisierung des Landes, wie sie Übergangspräsident Alexander Turtschinow jüngst in Aussicht gestellt hat, einen Ausweg aus der schweren Existenzkrise der Ukraine weisen? Oder führen mehr Rechte für die russischsprachigen Gebiete der Ukraine nur zu einer schleichenden Machtübernahme Moskaus im Osten des Landes?

"Die Ukraine ist heute tatsächlich ein sehr zentralistisch verwalteter Staat", berichtete der Politologe Kyryl Savin aus Kiew der "Wiener Zeitung". So werden zum Beispiel die Gouverneure der Provinzen nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern von Kiew ernannt. "Die Regionen müssen alle Steuereinnahmen an die Zentrale in Kiew schicken und bekommen von dort nur relativ wenig zurück. Da entstand natürlich eine große Unzufriedenheit", sagte der Leiter der Heinrich Böll Stiftung der deutschen Grünen in Kiew. Von einem Umbau des ukrainischen Zentralstaates in eine Föderation hält er dennoch nicht viel: "Da denken viele an Manipulation, an ein russisches Polit-Projekt, das letztlich zur Spaltung des Landes führt". Einer
Gallup-Umfrage zufolge lehnen 75 Prozent der Ukrainer eine solche Föderalisierung ab. Selbst in den Gebieten Donezk und Luhansk im russischsprachigen Osten des Landes soll sich nur ein Teil der Einwohner für einen föderal aufgebauten Staat aussprechen.

"Was aber in jedem Fall sinnvoll wäre, wäre eine fiskalische Dezentralisierung", sagte Savin. "Man will in den Regionen über die Verwendung der Steuern, die man einnimmt, auch selbst entscheiden. Das System in der Ukraine ist fast in jedem Bereich extrem zentralistisch organisiert, auch bei der Bildung oder im Gesundheitsbereich", meint der Politologe. "Da müsste es Reformen geben, dass auch auf der Ebene der Regionen wichtige Entscheidungen getroffen werden können. Natürlich sollte aber auch auf den Ausgleich zwischen den reicheren und den ärmeren Regionen des Landes nicht vergessen werden."

Subventionierter Bergbau

Die weit verbreitete Ansicht, dass die Ukraine bei einem Abfall der grenznahen prorussischen Gebiete im Osten als Staat nicht mehr lebensfähig wäre, teilt Savin nicht. "Der Osten inklusive dem dortigen Zentrum Donezk war in den letzten Jahren Nettoempfänger innerhalb der Ukraine", klärt er auf. Dies deshalb, weil Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch das Gebiet, aus dem er stammte und in dem er seine politische Heimat hatte, stärken wollte. Außerdem befinden sich im Osten zwar bedeutende Industriegebiete, diesen mangelt es aber auch oft an Wettbewerbsfähigkeit. Die Anlagen sind veraltet und bedürften dringend einer Modernisierung, und das kostet Geld. Auch das traditionelle Herz des Donbass, der Bergbau, wird massiv subventioniert: Die Gruben sind heute bereits über einen Kilometer tief und nur mehr wenig wirtschaftlich. Um die Bergarbeiter nicht auf die Straße zu setzen und keine sozialen Unruhen zu riskieren, fließen aber weiterhin große Gelder aus Kiew in den Kohlebergbau.

Wenn aber selbst Donezk, das industrielle Herz der Ukraine, der Sitz des mächtigen Oligarchen Rinat Achmetow, zu den Nettoempfängern gehört - welche Regionen bleiben dann überhaupt noch als Nettozahler? "Wenn man sich die Karte der Geber und Nehmer ansieht, erlebt man einige Überraschungen", sagt Savin. "Es sind meistens eher unauffällige Regionen, etwa das Gebiet Poltawa, die bei den Nettozahlern aufscheinen. Oder Tscherkassy. Oder auch Lemberg im an sich eher armen Westen des Landes", meint der Kiewer Politologe.

Wider alle Unkenrufe wäre die Ukraine also vermutlich auch dann noch lebensfähig, wenn sich die östlichsten Gebiete um Donezk und Luhansk abspalten würden. Der Restukraine blieben immer noch genügend Industriegebiete: etwa Kiew, wo der Flugzeugbauer Antonow seinen Sitz hat, der das weltgrößte Flugzeug, baut. Oder Dnipropetrowsk, wo unter anderem der Raketenbauer Juschmasch zuhause ist. Oder Saporischja, wo die Firma "Motorsitsch" Turbinen für russische Kampfhubschrauber produziert. Die Verzahnung mit Russland, gleich ob bei Raketen, Turbinen und Flugzeugen, ist intensiv - und inmitten des Konflikts mit Moskau eine Achillesferse der ukrainischen Industrie.