Bagdad hat die Schlacht um die einst 200.000 Einwohner zählende Stadt gewonnen. Befriedet ist Tal Afar aber noch nicht.
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Erbil. Jetzt ist es also so weit. Zum Beginn des muslimischen Opferfestes, Aid al-Adha, verkündet Iraks Premierminister Haider al-Abadi die vollständige Rückeroberung von Tal Afar und aller umliegenden Gemeinden und Dörfer. Damit ist die gesamte Provinz Ninive wieder unter der Kontrolle der Regierung in Bagdad. Für die Terrormiliz "Islamischer Staat" (Daesh) ist das ein herber Rückschlag. Ihr ehemals riesiges Herrschaftsgebiet im Irak schrumpft damit weiter. In seiner Erklärung im irakischen Fernsehen drohte al-Abadi den Extremisten mit weiteren Angriffen: "Wir sagen den Kämpfern von Daesh: Wo immer ihr seid, wir kriegen euch." Die Aufständischen hätten die Wahl zwischen Aufgeben und Tod.
Nach Angeben der von den Amerikanern geführten Anti-IS-Koalition haben die Iraker inzwischen 90 Prozent des ehemals von der Terrormiliz kontrollierten Gebietes zurückerobert. Sie lobte die Einnahme Tal Afars als "einen weiteren bedeutenden Erfolg" von Iraks Sicherheitskräften. Zugleich warnte der Oberkommandierende Stephen Townsend, es gebe in der Stadt noch gefährliche Aufgaben. So müssten Sprengfallen entschärft und versteckte IS-Kämpfer aufgespürt werden. Bereits am vergangenen Wochenende sprachen die irakischen Sicherheitskräfte vom Sieg über Tal Afar, Verteidigungsminister Erfan al-Hiyali besuchte daraufhin das Zentrum der Stadt, wo die irakische Fahne gehisst und das Banner der Dschihadisten verbrannt wurde. Doch es sollte noch eine weitere Woche dauern, bis Tal Afar gänzlich befreit war.
Die Stadt liegt rund 70 Kilometer westlich von Mossul und hatte vor ihrer Eroberung durch den IS über 200.000 Einwohner. Wie viele Zivilisten sich jetzt noch dort aufhalten, ist unklar. 40.000 sollen in den letzten Wochen geflohen sein. Dass der Kampf um Tal Afar nur zwei Wochen gedauert hat, verwundert indes. Denn die meisten Beobachter sagten einen langen und schwierigen Kampf voraus, schwieriger noch als die Schlacht um Mossul - nicht im militärischen Sinne, sondern weil sich in der Stadt Ethnien und Religionen mischen wie sonst nirgendwo im Irak. Die Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen seien militärisch nicht zu lösen. Wie schwierig die Lage in Tal Afar ist, macht ein Bericht des "Middle East Research Instituts" (MERI) - Recherche-Institut Mittlerer Osten - mit Sitz in der Kurdenmetropole Erbil deutlich.
Kriegsverbrechen
Darin schreibt Khogir Wirya, dass die Eroberung Tal Afars durch Daesh (arabisch für IS) am 16. Juni 2014 das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten in der Region stark beschädigt habe - vor allem aber die Beziehungen der dort lebenden Turkmenen mit den anderen Ethnien. Denn anders als die Kurden, die mehrheitlich dem sunnitischen Islam angehören - ebenso wie die arabischen Einwohner im Norden des Landes -, sind die Turkmenen in Tal Afar beides. Es gibt sowohl Sunniten als auch Schiiten unter ihnen. Die meisten Turkmenen flohen vor Daesh, da sie sich sofort im Fadenkreuz des Terrors befanden. Einige sunnitische Turkmenen aber blieben und schlossen sich der ebenfalls sunnitischen Terrormiliz an. Nun werden sie beschuldigt, Kriegsverbrechen auch gegen ihre eigene Ethnie begangen zu haben. Seit Daesh die Kontrolle über Tal Afar übernommen hat, seien dort mehr als 3000 Vertreter der turkmenischen Minderheit umgebracht worden, schreibt die irakische Nachrichtenagentur INA.
Nach seinem Vormarsch vor mehr als drei Jahren hatte der IS auf dem Höhepunkt seiner Macht riesige Gebiete im Norden und Westens des Landes beherrscht, darunter große Städte. Dazu gehörte auch die Millionenstadt Mossul östlich von Tal Afar. Auch die Provinz Ninive, die an der Grenze zu Syrien liegt, wurde im Sommer 2014 vom "Islamischen Staat" überrannt. In der Provinzhauptstadt Mossul riefen die Dschihadisten damals ihr sogenanntes Kalifat aus. Die Millionenstadt wurde bereits im vergangenen Juli nach monatelanger Belagerung von irakischen Truppen mit internationaler Hilfe zurückerobert. Schon zuvor hatten die Extremisten die größten Teile der ehemals kontrollierten Gebiete im Irak verloren.
Die Schlinge zieht sich zu
Tal Afar war die letzte irakische Stadt in der Hand der IS-Miliz in Ninive. Diese kontrolliert nun nur noch zwei Gebiete im Irak: Hawidscha, 30 Kilometer südlich von Kirkuk, und die Städte Al-Kaim, Rawa und Anna in der Wüste an der Grenze zu Syrien, in der Provinz Anbar. UN-Sondergesandter Staffan de Mistura zeigte sich in einem BBC-Interview am Freitag zuversichtlich, dass diese bis Ende Oktober unter staatliche Kontrolle gebracht werden können.
Dass Tal Afar so schnell fiel, hat zwei Gründe. Zum einen ist der IS nach der fast neun Monate dauernden Schlacht um Mossul erheblich geschwächt. Die Kommandostrukturen der Terrormiliz sind weitgehend zerstört, viele ihrer Kämpfer tot. Da alle Kräfte für die Verteidigung der ehemals zweitgrößten Stadt Iraks zusammengezogen wurden, war die Kampfkraft in Tal Afar minimiert.
Zum anderen waren an der Rückeroberung Tal Afars nicht nur die irakische Armee, Polizei und Spezialeinheiten beteiligt, sondern auch verstärkt Schiitenmilizen von Hashd al-Shaabi, der sogenannten Volksmobilisierungsfront. Unter dem Druck der Amerikaner durften sie nicht in den Gefechten um Mossul mitmischen, brachten sich stattdessen um Tal Afar in Stellung. Als die irakische Armee dann anrückte, war das Feld schon bestellt. Deshalb hieß es in den irakischen Medien auch immer, irakische Sicherheitskräfte rückten in Tal Afar ein, während in Mossul immer von der irakischen Armee die Rede war - eine kleine, aber nicht unwichtige Nuance. Dass diese Kräfte jetzt bei der Neuorganisation von Tal Afar mitmischen wollen, liegt auf der Hand. Der Kampf um die Stadt könnte deshalb erneut beginnen.
Während das Ende des Kalifats naht, entwickeln sich die IS-Dschihadisten immer mehr zu Guerillakämpfern. Nach der Niederlage in Mossul nahmen Terroranschläge gegen die Energieinfrastruktur zu. So gab es allein in dieser Woche bereits vier Anschläge auf Ölanlagen, in Kirkuk musste der Ölexport für einige Stunden eingestellt werden. Ein Polizist, der die Gaspipeline bewachte, wurde getötet. Auch in der Provinz Salahaddin und in Kirkuk ist die Anzahl der Anschläge zuletzt deutlich gestiegen.