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Auf Alptraum folgen Anfeindungen

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Europaarchiv

Mitgefangene bezeichnen Ingrid Betancourt als "kalt und verlogen". | Ein Buch über die eigene Hölle und das Ende aller Illusionen. | Paris. Ingrid Betancourt liefert sich erneut aus. Ihren Erinnerungen und Ängsten, den inneren Dämonen, die von ihr Besitz ergriffen haben während ihrer qualvollen Geiselhaft, in der sie anderen, Rebellen der kolumbianischen Farc-Bewegung, ausgeliefert war.


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Gut zwei Jahre nach ihrer spektakulären Befreiung am 2. Juli 2008 erzählt die Franko-Kolumbianerin, wie sie das Martyrium im kolumbianischen Dschungel er- und überlebt hat. "Sogar das Schweigen hat ein Ende" heißt der 700 Seiten fassende Erlebnisbericht, der persönliches Tagebuch, politischer Essay, Glaubenszeugnis und Abenteuerroman in einem ist. Nun erscheint das Buch in mehreren Sprachen, auch auf Deutsch.

Eineinhalb Jahre schrieb die 48-Jährige in großer Zurückgezogenheit daran und verarbeitete so nicht nur die gut sechsjährige Geiselhaft, sondern auch die darauffolgenden Monate, in denen sich ihr öffentliches Bild völlig wandelte, bis viele in der einst so charismatischen "Jeanne dArc Kolumbiens" nur noch eine geldgierige Opportunistin sahen. Ein Großteil der Kolumbianer lehnt heute die zuvor madonnenhaft verehrte Kämpferin gegen Korruption, die als Kandidatin der Grünen Präsidentin werden wollte, ab. Auch in ihrer zweiten Heimat Frankreich, wo Betancourt die Schule und eine Eliteuniversität besucht hat, reagiert man misstrauisch auf ihre neue Öffentlichkeitsoffensive: Will sie nun ihr angekratztes Bild wieder aufpolieren? Und doch fasziniert diese zarte Frau mit dem stahlharten Willen.

Ex-Mann distanziert sich

Dass sie nach der Entführung vom kolumbianischen Staat fast acht Millionen Dollar Entschädigung verlangte, wurde ihr als Undankbarkeit ausgelegt. Sie zog die Forderung zurück und lebt heute "am Rande des Existenzminimums", wie ein Freund den Medien anvertraute. Ihrem Ruf schadeten auch die Bücher ihres Ex-Mannes und ehemaliger Mithäftlinge, die sie als egoistisch und autoritär beschrieben: Sie habe von ihrem Status als Star-Geisel profitiert, Essen gestohlen und ihnen Informationen vorenthalten. Auch ihre einstige Vertraute und Wahlkampfleiterin Clara Rojas, die in der Gefangenschaft von einem Guerillero ein Kind bekam, charakterisiert sie in ihrem autobiografischen Buch als kalt und verlogen.

Auf die Vorwürfe antwortet Betancourt versöhnlich. Statt sich zu rechtfertigen, erklärt sie die Spannungen mit der psychischen Belastung aller Häftlinge. "Der Dschungel verwandelte uns in Kakerlaken", schreibt sie. "Wir waren zu der höchsten Strafe verdammt, die man einem Menschen auferlegen kann: nicht zu wissen, wann sie zu Ende ist." Schlimmer als die Malaria und die Schlaflosigkeit, der Schmutz und die Hornissen seien die Menschen gewesen; die sadistischen Wärter, die sie erniedrigten und sexuell missbrauchten, ebenso wie die Mitgefangenen. Sie waren einander die Hölle - und Rettung zugleich. "Sie haben mir erlaubt, in den Himmel zu blicken, sie haben mich aus dem Schmutz geholt."

Hoffnung, Wut, Apathie

Zu manchen ihrer Bewacher, die teilweise nicht älter als ihre Kinder waren, baute sie freundschaftliche Beziehungen auf, wie zu dem 17-Jährigen, der ihr unbeholfen sein Beileid zum Tod ihres geliebten Vaters aussprach. Erfahren hatte sie davon aus einer alten Zeitung, in die Kohl gewickelt war. "Ich spürte eine unsichtbare Hand, die meinen Kopf unter Wasser drückte."

Eindrucksvoll beschreibt Betancourt ihre Entwicklung von der anfänglichen Hoffnung, als sie im Radio von der Unterstützung durch Papst Johannes Paul II. und den damaligen französischen Premierminister Dominique de Villepin hörte, und ihren fünf Fluchtversuchen über die Wut auf die Rebellen bis hin zur völligen Apathie. In ihrer Verzweiflung gab ihr nur noch der Glaube an Gott die Kraft durchzuhalten. Sie verschlang die Bibel und Harry Potter, machte Yoga und Gymnastik, versuchte trotz unmenschlicher Umstände ein Mensch zu bleiben. "Ich hatte dieses Konzept von Würde, das sehr verschwommen, aber vorhanden war", sagt sie. "Würde als Antwort auf die Erniedrigung."