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Auf befremdliche Weise eigenwillig

Von Norbert Leser

Reflexionen
Der Philosoph Heraklit, porträtiert vom skurril-grotesken österreichischen Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt.

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Es blieb dem amerikanischen akademischen Lehrer William M. Johnston vorbehalten, 1974 zum ersten Mal eine systematische Kultur- und Geistesgeschichte des Österreich von 1848 bis 1938 unter dem Titel „The Austrian Mind” zu veröffentlichen. Das Buch gilt zu Recht als Standardwerk über die österreichische Geistesgeschichte, ist aber zugleich eine Geschichte des Ungeistes, der im Nationalsozialismus gipfelte, im Sinne des Ausspruchs meines Lehrers August Maria Knoll: „Der Nationalsozialismus war jene Bewegung, die der österreichischen Narretei das preußische Schwert geliehen hat”.

Johnston, Jahrgang 1936, hat nicht aufgehört, sich mit der österreichischen Geistesgeschichte zu beschäftigen. 2010 hat er in deutscher Sprache das Buch „Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs” vorgelegt, in dem er dem Werden eines spezifisch österreichischen Nationalbewusstseins nachgeht.

Als ich 2010 daranging, ein Buch mit Biographien von insgesamt 29 Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte zu schreiben, das dann 2011 unter dem Titel „Skurrile Begegnungen” erschien, nahm ich schon insofern bei Johnston eine geistige Anleihe, als ich den Begriff „skurril”, mit dem es nach der Analyse Johnstons in Österreich eine eigene Bewandtnis hat, als Aufhänger benützte.

Skurril, bizarr, grotesk

Johnstons Verdienst war es, herausgefunden zu haben, dass die Begriffe„skurril” und „Skurrilität” in Österreich eine besondere, vom sonstigen deutschen Sprachgebrauch abweichende Färbung und Sinngebung haben - ganz zu schweigen vom angloamerikanischen Sprachgebrauch, innerhalb dessen „scurrilous” bzw. „scurrilous language” Unworte sind, die sich auf einen obszönen, verpönten Inhalt beziehen. Im Deutschen hingegen bedeutet der Begriff „skurril”, Johnston zufolge, so viel wie „unbegreiflich” oder „nicht zusammen gehörend”. Der Duden umschreibt „skurril” mit „sonderbar, auf befremdliche oder lächerliche Weise eigenwillig”.

Und über das Abstraktum „Skurrilität” ist zu lesen: „ein sonderbares Wesen, bizarre Beschaffenheit, bizarres Aussehen, Verschrobenheit”. Über den Begriff „bizarr”, der dem „Skurrilen” am nächsten kommt, ja geradezu austauschbar mit ihm scheint, wird im Duden das Folgende ausgeführt: „von absonderlicher, eigenwilliger, schroff verzerrter, fremdartig-fantastischer Form”.

Jedenfalls ist das „Skurrile” etwas für die Kunstgattung der Literatur Typisches, während der synonyme Ausdruck „grotesk” mehr auf die bildende Kunst bezogen erscheint, was wohl mit dem italienischen „grotta” zusammenhängt. So werden etwa die Skulpturen und Charakterköpfe des österreischischen Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt in der Literatur mit Recht als „grotesk” bezeichnet, so wie es vor Jahren eine niederösterrischische Ausstellung „groteskes Barock” gab.

Späße der Macht

Ein entzückendes Beispiel einer architektonischen Groteske, also einer abgewandelten Form der Skurrilität, sind die Hellbrunner Wasserspiele, die der Salzburger Fürsterzbischof Markus Sittikus errichten ließ, um seine Gäste durch kunstvolle Mechanik nass werden zu lassen, während er selbst im Trockenen saß. Diese Wasserspiele sind auch eine Metapher der Macht, die sich selbst den besseren Teil erwählt, aber die ihr Ausgelieferten mit einem weniger guten Los bedenkt. Und doch zeigt diese neckische Form des Grotesken, welch maßvollen Gebrauch ein christlicher Souverän von seiner Macht machte, jedenfalls im Vergleich zu den Gewaltherrschern des 20. Jahrhunderts, die ihre Untertanen wahrlich nicht nur neckten, sondern opferten und hinschlachteten.

„Skurril” scheint mir aber auch mit dem Lächerlichen als einer Begleiterscheinung des Komischen zusammenzuhängen und erinnert an den Ausspruch Schopenhauers, dass das Leben in seiner Gesamtheit eine Tragödie, in den einzelnen Szenen aber eine Komödie, insgesamt also eine Tragikomödie sei. Das Komische wiederum ist aufs Engste mit dem Witz und dem Humor verbunden - Phänomene, die ihrerseits wiederum mit dem Phänomen des Unerwarteten, von der Norm Abweichenden verknüpft sind.

Der Humor ist, wenn man der Analyse Freuds folgt, ein Abwehrmechanismus, der es uns erlaubt, mit dem von der Norm Abweichenden, solange es nicht als bedrohlich erscheint, mit Lustgewinn fertig zu werden.

Das Skurrile als das Unerwartete scheint mir aber auch mit dem logischen Begriff des „Paradoxen” verwandt und verwoben zu sein, und dieses wieder mit dem Phänomen des „Pathologischen”, von dem freilich die These Freuds gilt, dass „am Pathologischen der Normalfall sichtbar wird”, so wie auch das sinnverwandte „Exzentrische” vom Zentrum wegführt, aber jedenfalls von ihm herrührt.

Johnstons Entdeckung des Skurrilen als etwas spezifisch Österreichischem besteht zunächst einmal darin, erkannt zu haben, dass der Begriff „skurril” im österreichischen Deutsch häufiger vorkommt als im übrigen deutschen Sprachraum; dass es auch mehr Situationen, Begebenheiten und Phänomene gibt, die die Charakterisierung „skurril” verdienen, ja herausfordern. Oder wäre eine literarische Figur wie Ritter Fritz von Herzmanovsky-Orlando außerhalb Österreichs denkbar?

Ich selbst habe in meinem Buch dem Kapitel über den österreichischen Romancier Heimito von Doderer den Titel „Ein skurriler Poet” gegeben, eingedenk der besonderen Betonung, die Johnston auf das Moment des Zusammentreffens von nicht Zusammenpassendem legt. Denn war es nicht eine tragikomische Form der Skurrilität, wenn Doderer gleichzeitig oder kurz aufeinanderfolgend mit einer Jüdin verheiratet und illegaler Nationalsozialist war?

Der Rekurs auf das Skurrile legt freilich den Gedanken nahe, dass das, was scheinbar zufällig und widersinnig zusammentrifft, doch nicht bloß irgendwie zusammengehört. Das Skurrile wäre in dieser Sicht eine geradezu philosophische, ja ins Theologische übergreifende Form der Koexistenz. Der große Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues hat Gott als die „coincidentia oppositorum” definiert, als jenes höchste Sein, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind und zusammenfallen. Könnte es nicht sein, dass der Mensch sich auch gerade darin als Abbild Gottes manifestiert, dass er imstande ist, Gegensätze und Widersprüche in sich zu vereinen, so wie auch Glaube und Unglaube zusammengehören, wenn es in der Heiligen Schrift heißt: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben”?

Österreichs Halbheit

Die Skurrilität könnte sich sub specie aeternitatis zu einer Signatur der menschlichen Existenz selbst ausweiten, was nicht ausschließt, dass eine bestimmte Erscheinungsform des Allgemein-Menschlichen in einer bestimmten Ausprägung besonders gehäuft und intensiv auftritt, so wie ja auch jeder Mensch das Göttliche, das er abbildet, in einer spezifischen Einmaligkeit verkörpert.

Johnston leitet die besondere Anfälligkeit des Österreichischen für das Skurrile von der Existenz des alten Österreich ab, in dem verwandte und doch verschiedene Völkerschaften miteinander konfrontiert waren und einander polarisierten, aber auch osmotisch durchdrangen, wie Johnston am Beispiel verwandter Liedkulturen benachbarter Völker, die der Komponist Béla Bartók dann auch vertont hat, demonstriert.

Freilich wäre die Neigung des Österreichischen zur Skurrilität unvollständig charakterisiert, wenn sie nicht auch eine andere Komponente berücksichtigte, die ein anderer Kenner und Liebhaber Österreichs, Friedrich Torberg, als typisch österreichische bezeichnet hat: das Moment der Halbheit nämlich. Freilich ist auch in Bezug auf diesen in Österreich besonders ausgeprägten Wesenszug zu betonen, dass es sich nicht um etwas exklusiv Österreichisches handelt, denn die Halbheit gehört wie die Skurrilität zur Grundausstattung des Menschen, der auf personale Hinwendung zum Anderen und zur personalen Erfüllung durch Andere und in Anderen angelegt ist.

Doch auch die gelungenste personale Erfüllung vermag die Ich-Gott-Beziehung, die nach dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber mit der Ich-Du-Beziehung und der Ich-Es-Beziehung eine Trias bildet, zu ersetzen. Und doch kann es sein, dass eine spezifische Ausprägung des innerweltlichen Seins diese Halbheit in besonderer Form und Gebrochenheit abwandelt und im Sinne der Aussage, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt sei, gleichzeitig auch karikiert, so wie ja auch jede Karikatur die Übertreibung einer bestimmten Eigenschaft ist.

Schon der österreichische Nationaldichter Franz Grillparzer hat in seinem Drama „Ein Bruderzwist in Habsburg” die Halbheit als den „Fluch von unsrem edlen Haus” bezeichnet und wie folgt definiert: „auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben”. Diese Halbheit, die freilich auch eine liebenswürdige Kehrseite der Verständigungsbereitschaft hat, zieht sich wie die Skurrilität durch die gesamte österreichische Geschichte und ist im Großen und im Kleinen am Werk: das Zurückschrecken vor der Tat und der Konsequenz des Angekündigten verhinderte und verhindert notwendige Lösungen. Denn so notwendig in vielen Fällen der Kompromiss ist, so notwendig ist in anderen der Mut zur ganzen Lösung.

Beispiele im Großen für diese Untugend der Halbheit sind in der Zwischenkriegszeit die mangelnde Bereitschaft, die österreichische Demokratie und später die Unabhängigkeit Österreichs gegen Hitler zu verteidigen. Beispiele im Kleinen sind in einer großen Koalition, die diesen Namen gar nicht verdient, an der Tagesordnung: so ist es aus dem Bestreben heraus, es allen Recht zu tun, nicht wie in den meisten europäischen Ländern möglich gewesen, durch ein totales Rauchverbot dem Postulat der notwendigen staatlichen Vorsorge für die Gesundheit Rechnung zu tragen.

Es bedurfte eines ausländischen Beobachters, um einen Wesenszug des Österreichischen, das Skurrile nämlich, das im österreichischen Sprachgebrauch etwas Liebevoll-Verständiges für fremde Schwächen und Eigenheiten beinhaltet, zu entdecken und als Spiegel unserer selbst vorzuhalten, wobei der Spiegel eine ernste, aber auch eine erheiternde Funktion wie das Lachkabinett im Prater hat.

Literaturhinweise:Norbert Leser: Skurrile Begegnungen. Mosaike zur österreichischen Geistesgeschichte. Mit einem Vorwort von William M. Johnston, 2011.William M. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. (erstmals 1974).- Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, 2009.Alle drei Bände sind im Böhlau Verlag, Wien, erschienen. Norbert Leser, geboren 1933, ist emeritierter Professor für Sozialphilosophie und Präsident des Universitätszentrums für Friedensforschung in Wien.