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Auf bestem Weg in einen EU-Überwachungsstaat

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter.

Trotz der Empörung über die NSA werden die europäischen Staaten keine Kehrtwende machen, sondern ihre eigenen Überwachungssysteme ausbauen.


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Stellen wir uns eine Welt vor, in der eine Partei jede Form der Kommunikation mit sogenannten Telescreens überwacht. Wer genau diese Partei anführt, kann keiner sagen. Der
"Big Brother" - so wird das allgegenwärtige Etwas genannt - soll Sicherheit garantieren, und jeder Verstoß gegen ihn und das System wird bestraft. Außerdem wird eine künstliche Sprache - "Newspeak" ("Neusprech") - geschaffen, die festlegt, was gesagt und was nicht gesagt werden darf. Es ist eine Welt, die George Orwell in seinem dystopischen Roman "1984" beschrieb und die eigentlich als Warnung vor einem totalitär-kommunistischen Staat dienen sollte.

Heute würde man Orwells Horrorvision wohl eher mit den turbokapitalistischen USA und der NSA assoziieren als mit längst überholten Sowjet-Regimen. Und trotz der kontinentaleuropäischen Empörung über zahlreiche Spionageaffären auf höchster Ebene werden weder Deutschland noch Frankreich eine Kehrtwende machen, sondern ihre eigenen Überwachungssysteme ausbauen, um mit den USA mithalten zu können.

Das Know-how dafür könnten sie sich vom "EU-Meisterspion" Großbritannien beschaffen. Glasfaserkabel ermöglichen es den Briten, den Datentransfer zwischen dem europäischen Kontinent und Nordamerika gezielt zu überwachen. Außerdem hält Großbritannien nach wie vor brav zum "Big Brother" USA.

Der britische Premier David Cameron sieht in den Enthüllungen des Aufdeckers Edward Snowden eine weit größere Gefahr als in der Beschneidung der Privatsphäre und Meinungsfreiheit europäischer Bürger.

Das 21. Jahrhundert ist ohne die hochtechnologischen Errungenschaften in den Bereichen Internet und Telekommunikation undenkbar, der Preis, den die Gesellschaft dafür bezahlt, ist jedoch sehr hoch. Google speichert persönliche Daten über die Nutzung des Internets oder der Android-Mobiltelefone. Wer Alternativen sucht, wird immer weniger fündig. Google hat sich - ähnlich wie Facebook im Social Networking und Wikipedia in der Weitergabe von Wissen - ein globales Monopol gesichert. Dagegen anzukämpfen lohnt sich fast nicht, weder für Privatpersonen und Firmen noch für Regierungen.

Rentiert es sich für europäische Regierungen überhaupt, der Spionage Einhalt zu gebieten? Wohl kaum, denn einmal abgesehen von der allgemeinen Besorgnis um die Privatsphäre Angela Merkels steht für Deutschland und die EU viel mehr auf dem Spiel.

Erstens ist die EU inmitten der Wirtschaftskrise besonders verwundbar und will ihre Wettbewerbsfähigkeit bewahren, was wiederum die Wirtschaftsspionage unerlässlich macht. Zweitens sieht sich der Westen immer mehr von - realen und fiktiven - äußeren Feinden, allen voran vom "globalen Terrorismus", bedroht. Damit lassen sich viele undemokratischen Praktiken entschuldigen. Damit lässt sich aber auch leichter verzeihen.

Anstatt "Big Brother" herauszufordern, ist es daher wahrscheinlicher, dass Deutschland aktiv an der Vereinheitlichung eines EU-Überwachungspaketes beteiligt sein wird.