Der Deloitte-Chefökonom in London glaubt weder an einen harten Brexit noch an ein zweites Referendum.
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"Wiener Zeitung":Eine weitere Brexit-Verhandlungsrunde ist eben ohne große Fortschritte zu Ende gegangen. Wie soll es London und Brüssel bis zum EU-Austritt der Briten 2019 gelingen, auch nur ansatzweise so etwas wie ein Handelsabkommen zu vereinbaren?
Ian Stewart: In den vergangenen drei Monaten wurde deutlich, dass die britische Regierung eine Art Übergangsphase mit der EU anstrebt. Es scheint, als wollte sie für die Zeit bis zu den nächsten Wahlen 2022 eine Art Zollunion mit der EU - und vielleicht auch die weitere Mitgliedschaft im Binnenmarkt. Die großen Veränderungen würden erst danach kommen. Brexit-Minister David Davis hat klargemacht, dass er nicht zwei große Umwälzungsphasen 2019 und 2022 will. Das heißt nicht, dass ein zweites Referendum oder die Möglichkeit, dass Großbritannien 2019 ohne Abkommen aus der EU ausscheidet, ausgeschlossen werden können. Ich halte diese Szenarien aber für äußerst unwahrscheinlich.
Muss es so eine Übergangsphase geben, wenn ein unkontrolliertes Ausscheiden aus der EU verhindert werden soll?
Alles Nötige bis 2019 auszuverhandeln, ist völlig unrealistisch. Selbst der Zeitrahmen bis 2022 ist extrem ambitioniert. Allein die technischen und logistischen Herausforderungen, was die Zölle betrifft! Die EU-Kommission und Kanada haben sieben Jahre gebraucht, um sich auf ein Freihandelsabkommen zu einigen - und jenes mit Großbritannien ist viel größer, ein riesiges Unterfangen.
Bei einer Übergangsphase mit Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt dürfte London die Rechte der EU-Bürger, in Großbritannien zu leben und zu arbeiten, nicht einschränken. Wird die Tory-Regierung da ihre Sturheit überwinden?
Migration war eines der großen Themen beim Brexit-Referendum. Bald wurde klar, dass die Regierung sich in Richtung Austritt aus dem Binnenmarkt bewegt, denn eine Teilhabe daran bedeutet auch Personenfreizügigkeit. Was sie betrifft, kann man aber kreativ sein. Sie lässt sich beenden, aber auch in einer anderen Form weiterführen, etwa für Menschen, die bereits einen Job oder ein bestimmtes Einkommen haben. Es gibt durchaus den Willen, weiterhin Fachkräfte einwandern zu lassen. Hier gilt ein Mindesteinkommen von rund 25.000 Pfund, was recht wenig ist. Es gibt also eine Grauzone zwischen Abschaffung und Beibehaltung der Personenfreizügigkeit.
Die britische Regierung scheint überhaupt keine Brexit-Strategie zu haben. Das verunsichert Unternehmen. Wie wird der EU-Austritt Großbritanniens sich auf die Wirtschaft des Landes auswirken?
Die Unsicherheit der Unternehmen ist mit dem Referendum stark gewachsen. Sie reduzierten ihre Ausgaben, wechselten zu defensiven Strategien. Nach dem Brexit-Votum vor einem Jahr sank das Vertrauen der Unternehmen massiv. Danach ist es wieder gestiegen, weil die Regierung den Eindruck machte, Pläne zu entwickeln. Nach den Neuwahlen im Mai, bei denen Premierministerin Theresa May hinter den Erwartungen blieb, gab es erneut einen Vertrauensverlust. Die Frage ist, ob es der Regierung und der EU-Kommission im nächsten Jahr gelingen wird, einen Plan vorzulegen, der zu einer Rückkehr des Vertrauens führt. Seit dem Referendum hat das Pfund 16 Prozent seines Wertes eingebüßt, die Inflation stieg an. Auf lange Sicht ist es schwierig zu sagen, wie sich die Wirtschaft entwickeln wird. Es gibt Schätzungen von 1,6 Prozent bis zwei Prozent Wachstum jährlich nach dem Brexit. Viele gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung zunächst etwas zurückgeht. Langfristig kommt es darauf an, welche Handelsabkommen zustande kommen.
Viel Grund für Optimismus gibt es jedenfalls nicht. Wieso nutzen die Unternehmen ihren Einfluss nicht, um den Brexit noch zu verhindern?
Vor dem Referendum waren die meisten Unternehmen für den Verbleib in der EU, darunter auch Deloitte. Aber es gab eben ein Referendum. Eine kleine Mehrheit von 52 Prozent hat für den Brexit gestimmt, das Land war gespalten über dieser Frage. Das ist es auch, was die Regierung vor solche Probleme stellt: Die Minister müssen zusehen, dass sie Lösungen finden, die dem Ergebnis des Referendums entsprechen, ohne dabei die Handelsbeziehungen zur EU zu zerstören. Das stellt sie vor große Herausforderungen.
Die sie bisher nicht sehr gut zu meistern scheinen...
Naja, es hätte mich überrascht, wenn sie weiter gekommen wären. Allein die Zollunion ist eine Riesenbaustelle. In den Verhandlungen versuchen beide Seiten, ihre Vorteile zu maximieren. Sie werden nicht von Anfang an alle ihre Forderungen auf den Tisch legen, selbst wenn diese bereits klar sind. Die Briten wollen alles gleichzeitig verhandeln, während die EU zuerst das Finanzielle und die Bürgerrechte klären will. In Londons Augen ergibt das keinen Sinn, weil die Briten dann bei den Verhandlungen einen wichtigen Hebel verlieren.
Deloitte profitiert auch vom EU-Austritt...
(lacht) Das habe ich nicht gesagt!
Sie beraten Unternehmen bei ihren Vorbereitungen zum Brexit. Was sagen Sie ihnen?
Der Brexit stellt britische Firmen vor die größten Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie müssen wissen, wie unsere Beziehungen zur EU sich künftig gestalten werden, welche Regulierungen sie wie treffen. Auch wenn ich das für unwahrscheinlich halte: Unternehmen müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten, also auf ein ungeordnetes Ausscheiden aus der EU 2019. In einem Jahr werden wir wissen, ob es wirklich so kommen wird. Es wird auf jeden Fall weiterhin Handel mit der EU geben, doch im schlimmsten Fall gibt es wieder Zölle von bis zu zehn Prozent. Unseren Klienten sage ich, dass sie damit rechnen sollen, dass Großbritannien den Binnenmarkt verlässt, aber ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließt.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass London die Unternehmenssteuer wie angekündigt auf 15 Prozent senkt?
Großbritannien wird alles tun, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Besteuerung ist hier ein Punkt. Großbritannien wird aber sicher kein zweites Hongkong vor der Küste Europas. Ich glaube allerdings, dass die Vereinfachung von Steuerregelungen genauso wichtig ist wie die Steuerrate selbst.