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Auf dem Donald-Trip

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Notizen einer Reise von der US-mexikanischen Grenze nach Cleveland, wo die Republikaner Trump zum Präsidentschaftskandidaten küren.


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Cleveland, Ohio, Sonntagmittag. "Wer protestieren will, soll zuhause bleiben. Das ist es, was ich allen meinen Freunden sage. Du willst, dass sich etwas ändert? Dann geh nicht auf die Straße zum Protestieren. Geh deine Sachen bei Leuten wie mir einkaufen. Kauf sie in Geschäften, die Schwarzen gehören." R.A. Washington sitzt vor seinem Laden, zieht an einer American-Spirit-Zigarette und schaut auf zum Himmel, wo ein Segelflieger seine Kreise zieht. Das Flugzeug zieht einen Banner hinterher, auf dem "Hillary for Prison 2016" steht. Darunter die Adresse einer bekannten Verschwörungstheorie-Website.

Washington ist 41 Jahre alt und lebt und arbeitet in Hingetown, einem nahe dem Stadtzentrum gelegenen Viertel auf der West Side von Cleveland, Ohio. In einer unscheinbaren Seitenstraße betreibt er einen Buch-, einen Plattenladen und einen Verlag, in dem er seine eigenen Bücher verlegt, bisher 27 an der Zahl. Das letzte ist erst vor ein paar Tagen erschienen. Es trägt den Titel "The Fire This Time".

Eine bewusste Abwandlung der 1963 erschienenen Essay-Sammlung "The Fire Next Time" der schwarzen Schriftsteller-Ikone James Baldwin, in dem der sich anlässlich des 100. Jubiläums von Abraham Lincolns Emancipation Proclamation, die den Sklaven des amerikanischen Südens die Freiheit garantierte, mit dem Verhältnis der Rassen in den Vereinigten Staaten auseinandersetzte. Washington hat sein Buch in nicht einmal zwei Wochen geschrieben, gesetzt, gedruckt und veröffentlicht. "The Fire This Time" enthält seine Gedanken zu den Polizisten-Morden von Dallas: Reflexionen über die Psychologie der Interaktion zwischen der Exekutive und den Angehörigen dunkelhäutiger Minderheiten, der Fetischisierung von Schusswaffen und den ganz alltäglichen Rassismus in Obamas Amerika.

"Ich komme ursprünglich aus El Paso, Texas. Ich bin als Teenager abgehauen und hier hängen geblieben. Seitdem lese und lerne ich. Jeden Tag aufs Neue", sagt Washington. Im vergangenen Jahr hatte ihn die Polizei von Cleveland im Visier, weil er sich anlässlich des Mordes an dem 12-jährigen Tamir Rice als einer der Haupt-Organisatoren der Proteste gegen sie hervorgetan hatte. Rice war kurz vor Weihnachten 2014 auf einem Spielplatz von einem Polizisten erschossen worden, der die Spielzeugpistole des Jungen für eine echte Knarre gehalten hatte. Im Rahmen einer Untersuchung stellte sich heraus, dass der Polizist, der abgedrückt hatte, wegen nachgewiesener "mangelnder emotionaler Stabilität" nie eingestellt hätte werden dürfen.

Eine Grand Jury sprach ihn frei von jeder Schuld an Rice' Tod. Vor Washingtons Läden, die zu Anziehungspunkten für die Protestaktivitäten wurden, patrouillierten Polizeiautos. Monatelang protokollierten Polizisten gewissenhaft, wer kam und ging. "Es ging ihnen nicht darum, jemanden zu verhaften. Sie wollten uns einfach nur Angst machen. Zeigen, wer Herr im Haus ist." Der Segelflieger mit dem Transparent ist inzwischen vom Himmel verschwunden. Dafür kreisen drei Blackhawk-Helikopter in Formation über Downtown Cleveland. "Ich hoffe nichts mehr, als dass der Parteitag in Ruhe über die Bühne geht. Diese Leute sollen ihr Geld dalassen und dann wieder verschwinden."

Abgesehen vom Lärm der Kampfhubschrauber liegt Ruhe über der Stadt. Aber die Anspannung über das, was in den nächsten Tagen alles passieren kann, macht sich längst nicht mehr nur Washingtons Worten bemerkbar. Abends steigt keinen Kilometer weiter die erste große Party anlässlich der Republican Convention 2016, im Rahmen derer, so keine außergewöhnlichen Umstände eintreten, Donald John Trump zum Kandidaten der Konservativen gekürt werden wird. Es ist Sonntagmittag in Amerika. Am Vormittag haben in Baton Rouge, Louisiana, ein oder mehrere Attentäter drei Polizisten in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. In Cleveland scheint die Sonne, aber die aufziehenden Wolken kündigen langsam aber sicher Regen an. Es wäre das erste Mal, dass es regnet, seitdem der Besucher vor fünf Tagen hierher aufgebrochen ist, zu einer Reise durch ein seltsames Land, das gestern wie heute mächtigste der Welt, dessen innere Widersprüche es – wieder einmal – zu zerreißen drohen.

San Diego, Kalifornien, Mittwochnachmittag. Die Fahne ist das erste, was man sieht und das schon von weitem, von der vorletzten Straßenbahnstation aus. So hoch kann die Mauer nicht werden, als dass einer im Fall ihrer tatsächlichen Errichtung die gigantische Flagge übersehen könnte, die den Beginn des mexikanischen Hoheitsgebietes markiert. Gleich neben dem Greyhound-Terminal am Rand von Downtown San Diego, warten dutzende Menschen auf die lokale Tram, die viele von ihnen zurück in ihre Heimat bringt. Jose Luis ist einer von ihnen. Er ist 57 Jahre alt, von untersetzter, aber kräftiger Statur und trägt einen Werkzeugkoffer. "Wann immer sich etwas ergibt", sagt er, gehe er in den USA pfuschen. "Es gibt mexikanische Familien, die genug Geld haben, um sich hier ein Haus zu bauen. Wenn die mich kennen, helfe ich ihnen aus", sagt er in stark gebrochenem Englisch. Wird diese Art des Broterwerbs schwieriger werden, wenn die Mauer Wirklichkeit wird? Hernandez lacht und tippt sich mit dem Zeigefinger auf den Kopf. "Trump ist verrückt. Total verrückt." Und wenn er ernst macht? "So hoch kann keine Mauer sein, dass wir nicht drüber klettern. Oder uns unten durchgraben." Thema erledigt. Die Fahrt zum Grenzübergang San Ysidoro dauert eine halbe Stunde. Sie führt zum größten Teil entlang der Pazifikküste, vorbei an gesichtslosen Vororten, Industriegebieten und einer Unzahl hier vor Anker liegender Kriegsschiffe.

Die südkalifornische Metropole, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem Zentrum für die amerikanische Biotechnologie-Forschung ausgewachsen hat, ist einer der größten Stützpunkte der Navy, deren Schiffe von hier aus in die Weltmeere auslaufen. Die Fahrgäste schenken den schwimmenden Kriegswerkzeugen keinerlei Beachtung. Viele von ihnen sind Tagespendler oder -löhner, die in San Diego arbeiten und nach Feierabend zurück nach Tijuana fahren, in die Millionenstadt auf der anderen Seite der Grenze. Von der von Fast-Food-Restaurants und Geldwechselstuben gesäumten Endstation San Ysidoro ist es buchstäblich nur ein Steinwurf zum Grenzübergang für Fußgänger. Während diesen jeden Tag rund 20.000 Menschen relativ umstandslos passieren, staut es sich ein paar hundert Meter weiter südlich zu jeder gegeben Tages- und Nachzeit. Von den insgesamt 25 Grenzübergängen der USA zu Mexiko ist San Ysidoro der mit Abstand meistfrequentierte. Für Autos beträgt die durchschnittliche Wartezeit zwei Stunden. Zu Spitzenzeiten – im Schnitt sind es 70.000 pro Tag – kann es einen ganzen Tag dauern, bis man ins jeweils andere Land durchgelassen wird. Jose Luis verabschiedet sich, bevor er den Fußweg nach Tijuana antritt: "Viel Glück auf deiner Reise, Mann. Und sag den Leuten in Cleveland, dass sie..." Der Rest ist auch beim besten Willen nicht druckreif.

San Bernardino, Kalifornien, Mittwochabend. Über der Stadt, deren Namen für alle Zeiten für einen der schlimmsten Terroranschläge der Geschichte der USA stehen wird, legt sich langsam aber sicher die Dämmerung. Nicht, dass San Bernadino nicht schon vorher ein Imageproblem gehabt hätte. Die 200.000-Einwohner-Stadt im traditionell arg vernachlässigten Hinterland des Molochs Los Angeles gilt als eine der korruptesten des Landes. Während ein Großteil seiner Einwohner in Armut lebt, wanderten Anfang des Jahrzehnts vom Bürgermeister abwärts dutzende Gemeindebedienstete ins Gefängnis, die sich jahrelang an den ohnehin knappen Steuergelden bedient hatten. Dafür interessiert hat sich im Rest des Landes kaum jemand.

Selbst als sich San Bernadino im Sommer 2012 offiziell für Bankrott erklärte – bis Detroit es ihm ein Jahr später gleichtat, die größte Kommunen-Pleite, die die USA je gesehen haben – kümmerte das außerhalb von Kalifornien nahezu niemand. Ins nationale Rampenlicht gestoßen wurde die Stadt erst am 2. Dezember vergangenen Jahres, als die selbst ernannten Gotteskrieger Syed Rizwan Farook und seine Frau Tashfeen Malik 14 Menschen ums Leben brachten und 22 teilweise schwer verletzten. Farook, Sohn pakistanischer Einwanderer, war der erste islamistisch motivierte Terrorist, der in den USA geboren wurde. Laut den Erkenntnissen des FBI sollen sich der 28-jährige und Malik "selbst radikalisiert" haben, durch vom Islamischen Staat (IS) und seinen Gesinnungsbrüdern im Internet verbreitete Schriften und Bilder. Narben, die im Stadtbild sichtbar sind, hat der Anschlag bis heute keine hinterlassen. Nicht einmal ein Denkmal für die Opfer gibt es.

Dafür führt die Fahrt an dutzenden mit Sperrholz verbarrikadierten Hauseingängen und Fenstern vorbei, die in San Bernadino ebenso zum Alltag gehören wie Schießereien, Einbrüche und Vergewaltigungen.

Las Vegas, Donnerstag, um Mitternacht. Von keiner Perspektive aus scheint die nächtliche Skyline der berühmtesten Vergnügungsmeile der Welt unwirklicher als durch die Windschutzscheibe des Busses, der die Stadt der Länge nach durchschneidenden Interstate 15 entlang fährt. Die Hotels und Casinos wirken, als hätte ein Kind entscheidende Bestandteile seines Baukastens verloren und sich dann halbherzig darum bemüht, mit den verbliebenen Werkstücken wieder halbwegs Ordnung in das Ensemble zu bringen. Sitznachbar Stephen, ein allzu offensichtlich zu lange auf Chrystal Meth hängen gebliebener Vagabund Mitte zwanzig, der kurz nach San Bernadino zugestiegen ist, murmelt irgendwas von "Lichtern, die nie ausgehen, bis sie ausgehen." Er sagt, dass er eine Tochter in seiner Heimatstadt hat, in Peoria, Illinois. Sie muss jetzt drei Jahre alt sein.
Fährt er dorthin, um sie zu besuchen? "Nein, Mann. Zuerst muss ich mich auf die Reihe kriegen." Den Einwand, dass einem ausgerechnet Vegas für diesen Zweck, nunja, nicht gerade optimal scheint, hat er nur ein Achselzucken übrig. Stephens Hals ziert ein betont un-kunstvolles Hakenkreuz-Tattoo. "Wirklich, du kommst aus Österreich? Ist das nicht das Land, in dem Hitler geboren wurde? Das ist ja großartig! Ich beneide dich."

Bis zum Anschluss-Bus Richtung Utah und Colorado bleibt eine Stunde Zeit, sich die Beine zu vertreten. Nevada lässt auch um diese Tageszeit keinen Zweifel aufkommen, dass es mitten in der Wüste liegt. Beim Aussteigen schlagen einem 33 Grad Celsius ins Gesicht. Um die Ecke liegt der zur Gänze überdachte Teil der Freemont Street, eine Art Miniausgabe des Strip, in der mitten in der Nacht hunderte Menschen einer schlechten Clash-Coverband, halbnackten Kellnerinnen und teils ganz nackten Straßenkünstlern, die ihre privatesten Körperteile mit Erdfarben übermalt haben, bei der Arbeit zuschauen. Am Weg zurück zum Terminal hält ein Auto neben einer in ihr Smartphone vertieftes Mädchen. Nach einem kurzen Dialog schreit sie den Fahrer an, dass er sich schleichen soll. Sie sei keine Prostituierte, die auf Kundschaft wartet, sondern warte auf ihren Uber, der sie nach Hause bringt. Der Fahrer, ein weißer, bärtiger Mann um die 40, blickt verdattert und schickt sich dann an, auszusteigen. Erst als er bemerkt, dass jemand den Dialog mitbekommen hat, sinkt er wieder in seinen Sitz und steigt aufs Gas.

Green River, Utah, Donnerstagvormittag. Der Busfahrer verordnet eine Viertelstunde Pause. Das sei nach der durchgefahrenen Nacht gesetzlich so vorgeschrieben und überhaupt solle man mehr Rücksicht auf rauchende Mitbürger wie ihn nehmen. Die hätten's im Land der Freiheit nirgendwo mehr leicht. Eine Tankstelle in der Mitte von nirgendwo, aber umgeben von einer malerischen Bergkulisse und scheinbar endlosen Weiten. Der Kaffee schmeckt, als ob es die hier die Bevölkerungsmehrheit stellenden Mormonen ihren Gästen bis heute nicht verzeihen, dass sie Mitt Romney vor vier Jahren als Präsidenten verschmähten. Das größte Busunternehmen Amerikas wirbt damit, dass sämtliche Fahrzeuge ihrer Flotte mit "Wifi on Board" ausgestattet wären. In der Realität funktioniert es auf den meisten Streckenabschnitten vielleicht zwei Stunden am Tag und das auch nur, wenn's hoch hergeht. Auch Ladestationen für Computer und Smartphone sind vorhanden, aber die Wahrscheinlichkeit, funktionierende zu finden, gleicht dem Bemühen von Donald Trump, afroamerikanische Wähler zu finden.

Der Busfahrer bittet mit dem Hinweis zurück ins Wageninnere, dass wir nicht darauf vergessen sollen, dass wir vor ein paar Stunden die pazifische Zeitzone verlassen haben und jetzt "Mountain Time" gilt. Die paar Minuten bis zum Passieren der Bundesstaatsgrenze zu Colorado, in denen plötzlich und unvermittelt eine stabile Internet-Verbindung besteht, reichen indes, um zu erfahren, dass soeben im 2.000 Kilometer weiter östlich liegenden Indianapolis ein Privatjet abgehoben hat, der den vielleicht künftigen Vizepräsidenten der USA nach New York City befördert. Trump soll sich bei der Suche nach seinem Ko auf Mike Pence festgelegt haben, den erzkonservativen, aber eher leisen Gouverneur von Indiana. Weil Trump die Nachricht erst am Freitag offiziell machen will, explodiert die Twitter-Timeline mit Spekulationen darüber, wie fix die Entscheidung sei.

So sicher wie das Amen im Gebet bricht die Verbindung ab. Als sie ein paar Stunden später wieder kurz funktioniert, hat der New Yorker Billionär bekannt, dass er seine "endgültige Wahl noch nicht getroffen habe". Seinen Vize wolle aber auf jeden Fall morgen um elf Uhr vormittags Ortszeit in Manhattan präsentieren. In Nizza, Frankreich, ist es halb elf Uhr abends.

Grand Junction, Colorado, Donnerstag nachmittag. Eine Stunde bis zum Anschluss nach Denver, genug Zeit für einen Spaziergang. Ein Eisladen, zwei Geschäfte mit Mountain-Bike-Bedarf, einladende Straßencafés, eine öffentliche Bücherei mit Gründerzeit-Fassade: Eine Main Street wie aus dem Bilder- in einer Kleinstadt wie aus dem Märchenbuch. Die Lokalzeitung "Sentinel Weekly" weiß über den geplanten Bau eines neuen Hotels zu berichten. Alles hänge nur noch davon ab, ob die Stadtverwaltung willens sei, eine Bruchbude entweder zu renovieren oder abzureißen, die dem Projekt schräg gegenüber liegt. Die erste echte Mahlzeit seit San Diego besteht aus einem "Larry David Sandwich" (Schafkäse, Oliven, Chorizo und allerlei Gemüse), das die Betreiber der örtlichen Hipster-Bar aus unerfindlichen Gründen so genannt haben, mutmaßlich, ohne den Namenspatron davon in Kenntnis zu setzen. Die Wände zieren Fotos des berühmtesten Sohns der Stadt, dem sie hier, nachdem er im vergangenen Jahr von Bryan Cranston auf der großen Leinwand dargestellt wurde, ein bronzene Statue gewidmet haben. Grand Junction ist die Heimatstadt von Dalton Trumbo (1905-1976), Schriftsteller und Drehbuchautor, zweifacher Oscar-Preisträger, Salonbolschewist und Anfang der Fünfzigerjahre vom Kommunistenfresser Joseph McCarthy wegen "unamerikanischer Umtriebe" verurteilter Rädelsführer der "Hollywood Ten".

"Ich kenne niemanden hier, der Trump wählt", sagt der Sandwich-Macher, dessen ZZ Top-Bart dem von ihm angefertigten Produkt gefährlich nahe kommt. Nachsatz: "Ich kenne aber auch keinen, der Hillary wählt. Wir sind alle Bernie-Fans." Ob er und seine Freunde jetzt, nachdem Sanders Anfang der Woche seine Niederlage offiziell eingestanden und zur Wahl seiner vormaligen Konkurrentin aufgerufen hat, überlegen, grün zu wählen? Er stutzt und schaut mich verwirrt an. "Was meinst du, grün?" "Die Grüne Partei. Jill Stein. Sie hat versprochen, mit der politischen Revolution dort weiterzumachen, wo Bernie aufgehört hat." "Nie gehört. Aber das schau ich mir genauer an. Wie heißt die nochmal?" "Jill Stein." "Okay. Ich werd den Namen googeln. Danke."

Denver, Colorado, Donnerstagabend. Weil der Bus eine gute Stunde Verspätung hat, bleibt zum Umsteigen in den nach Omaha kaum Zeit. Die zwanzig Minuten im Inneren des Greyhound-Terminals reichen indes, um sich des Ausmaßes des Wahnsinns, der sich in den vergangenen paar Stunden auf der anderen Seite des Atlantiks Bahn gebrochen hat, gewiss zu werden.

Während sich die Nacht über die sichtbar boomende "Mile High City" legt – Denver, das dank eines lokalen Jobwunders, einer liberalen Drogenpolitik und kluger Städteplanung heute den mit Abstand höchsten Bevölkerungszuwachs aller amerikanischen Großstädte verzeichnet, liegt exakt eine Meile (1,6 Kilometer) über dem Meeresspiegel – berichten alle Nachrichten-Websites atemlos über die steigende Anzahl der Opfer von Nizza. Es ist noch nicht spät, aber eine halbe Stunde nachdem sich der Bus Richtung Nebraska in Bewegung gesetzt hat, machen sich erste Erschöpfungsanzeichen breit.

Omaha, Nebraska, Freitagmorgen. Als die Augen wieder aufgehen, wünscht der Fahrer einen guten Morgen und verkündet, dass wir in zehn Minuten seine Heimatstadt Omaha erreichen werden. Den Fahrgästen, für die hier Endstation sei, legt er einen Besuch im örtlichen Zoo nahe, "dem größten und besten der Welt." Das ist nicht einmal gelogen, aber die Gedanken der Fahrgäste drehen sich um diese Tageszeit – es ist kurz vor halb sechs Uhr morgens – weniger um exotisches Getier als darum, möglichst schnell ans jeweilige Ziel zu kommen. In der kurzen Zigarettenpause, die vor dem Besteigen des Busses Richtung Chicago bleibt, drehen sich alle Gespräche um das, was am Vortag in einem Land passiert ist, das keiner von denen, der eine Meinung darüber hat, je betreten hat und wahrscheinlich nie betreten wird.

Eine schwules Pärchen aus Oregon, beide geschätzt Ende dreißig, beide mit Nickelbrillen und offensichtlich südasiatischen Wurzeln, das sich aus nicht näher erläuterten Gründen auf dem Weg nach Iowa befindet, schimpft über die "verdammten Muslime, die die ganze Welt in Brand setzen. Diese Hunde haben keinen Respekt vor dem menschlichen Leben." Ein wandelndes Hillbilly-Klischee – Vokuhila, Sechstagebart, Trucker-Cap, Cowboystiefel – nickt anerkennend. Ein Grund, dass sie im November Trump wählen? Während sich die zwei Schwulen abwenden und schweigen, bekennt der Hillbilly, dass er Trump mag. "Weil er viel sagt, was einfach stimmt. Sicher, vielleicht ist er auch nur ein Arschloch wie alle anderen. Ich weiß es nicht. Aber wenigstens ist er sein eigener Boss und keine Marionette." Wird er ihn wählen? "Nein." Warum nicht? "Ich darf nicht wählen, Mann." Warum? "Zuviel Jahre im Bau." Warum? "Ach, alles mögliche. Häusliche Gewalt, Drogen. Aber selbst wenn ich wählen dürfte:
Fuck them. Es ändert sich sowieso nichts."

Des Moines, Iowa, Freitagvormittag. Erstmals seit Fahrtantritt ist der Bus nur zur Hälfte belegt und man kann es sich in den hinteren Reihen ausnahmsweise so richtig gemütlich machen. Nun geschieht etwas, das mutmaßlich jedem Mann, der in den USA schon einmal längere Strecken im Bus hinter sich gebracht hat, passiert ist. Nach dem kurzen Austausch von Höflichkeiten bietet die schräg gegenüber sitzende Dame, eine weiße Frau in den besten Jahren, einen Blowjob an. "20 Dollar" flüstert sie. Sie deutet zuerst auf eine mitgebrachte Decke, die vor ungewollten Blicken dritter schützen soll und dann auf das zwei Reihen hinter mir sitzende schwule Pärchen, das bereits am Werk ist. "Wenn du willst, können wir auch auf die Toilette gehen", sagt sie und lächelt. Ich lehne dankend ab und frage sie, nachdem wir gerade mitten durch den Bundesstaat fahren, in dem traditionell die ersten Vorwahlen stattfinden, die legendären Iowa Caususses, wen sie im Herbst wählen wird. Die Frage irritiert sie. "Ich habe keine Zeit für diesen Blödsinn. Wählen? Wozu soll das gut sein?
Schwachsinn. Politiker sind alle Betrüger. Alle."

Nicht, dass sie in ihrem Land mit dieser Meinung allein da stünde. Das letzte Mal, dass die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten bei über sechzig Prozent lag, war 2008 (62,3 Prozent). Vier Jahre später, als die Amerikaner Barack Obama zum zweiten Mal ins Weiße Haus wählten, lag sie bei 57,5 Prozent. Angesichts der Popularitätswerte von Trump und Hillary Clinton befürchten viele, dass sie heuer noch weiter sinken wird.

Womöglich gar um die 50-Prozent-Marke. Ob ihr das wirklich egal sein kann, was die Politiker in D.C. entscheiden? Wo es doch am Ende auch um ihre Geldbörse geht? Die Frau bedeutet, dass sie genug hat von den Fragen und nachdem sie endgültig eingesehen hat, dass es mit dem Blowjob und dem damit verbundenen Entgelt definitiv nichts wird, hat sie offensichtlich auch kein Interesse mehr an einer Fortsetzung des Gesprächs. Draußen zieht das Postkarten-Amerika vorbei. Sorgsam gepflegte Maisfelder, liebevoll herausgeputzte Vorgärten, pittoreske Ein- und Mehrfamilienhäuser mit Flaggenhaltern, von denen die Stars and Stripes wehen. Eine einzige Idylle.

Chicago, Illinois, Freitagnachmittag. Die Spitze des Hancock Tower, eines der Wahrzeichen der Millionenmetropole am Lake Michigan, versinkt in den Wolken und der Bus, so kurz vor seinem Ziel, in einem Megastau. Was immerhin zum Guten hat, dass der kostenfreie Internetzugang wieder für ein paar Minuten gesichert ist, weil ein unmittelbar neben dem Highway wohnender Kunde vergessen hat, sein Netzwerk mit einem Passwort zu schützen. (Eine besondere Ironie, trägt es doch den so schönen wie einprägsamen Namen "muthafuckageturownwifi".) Drei Tage, bevor in Cleveland der bis Donnerstag dauernde Parteitag steigt, hat sich Donald Trump nach langem hin und her endgültig und ohne Widerruf auf Pence festgelegt. Die gemeinsame Pressekonferenz hat er auf Samstag verschoben, "aus Respekt vor den Ereignissen von Nizza". Newt Gingrich, in den Neunzigern Sprecher des Abgeordnetenhauses und heute einfacher Kongressabgeordneter und Chris Christie, der Gouverneur von New Jersey, die sich beide Chancen auf den Posten ausgerechnet haben, schauen durch die Finger. Als Vorteil der staubedingten Verspätung stellt sich heraus, dass der Anschluss-Bus für die letzte Etappe bereits am Gate steht.
"Cleveland? Bist du sicher?", fragt der schwarze Mittvierziger, der die Tickets kontrolliert. "Ja." "Im Ernst?" "Ja." "Na dann viel Glück", sagt er und zwinkert.

Elkhart, Indiana, Freitagabend. Der Versuch, dem einzigen in Indiana zugestiegenen Menschen eine Meinung über seinen nunmehr zum Vizepräsidentschaftskandidaten aufgestiegenen Gouverneur herauszukitzeln, scheitert an mangelnden Sprachkenntnissen wie an seiner mangelnden Gesprächsbereitschaft. Der junge Mann, der keinerlei Gepäck mit sich trägt, spricht zwar kein Wort Englisch, aber Spanisch; das allerdings mit einem Akzent, der seinem trotz familiärer Vorbelastung nur mit rudimentären Kenntnissen ausgestattetem Gegenüber kaum verständlich erscheint. "Pence? Trump?" Nichts geht, mehr als "No, no, no. No sabe" ist nicht drin. Das einzige, was herauszubekommen ist, ist sein Ziel. "Cleveland. Yes, Cleveland, si, si. Cleveland okay." Okay.

Cleveland, Ohio, Samstagmorgen. Der lokale Gastgeber, ein vor ein paar Jahren aus New York hierher geflüchter Intellektueller Mitte 40 mit ausgeprägtem Hang zum politischen Realismus – er beugte sich schon während der Vorwahlen nicht dem Herdentrieb seines linksliberalen Freundeskreises und gab Hillary Clinton und nicht, wie alle anderen, Bernie Sanders seine Stimme –, empfängt einen in Jogginghose, Billig-Sneakers und Billy Ray Cyrus-T-Shirt. Bevor wir ins Auto einsteigen, zeigt er mir, quasi als Rechtfertigung für sein verstörendes Outfit, ein nur Stunden zuvor aufgenommenes Video. Über den Bildschirm seines Smartphones flackern Bilder, die ihn und eine Handvoll Leute zeigen, die und um ein Lagerfeuer sitzen und die Nationalhymne singen, während sie eine Pappfigur mit dem Antlitz von Donald Trump verbrennen. "Welcome to Cleveland, Ohio", sagt er. "The party is about to start."