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Auf dem Weg zur Nachrüstung

Von Gerhard Lechner

Politik

Nato-Generalsekretär Stoltenberg gibt Moskau "eine letzte Chance": Es müsse seine Mittelstreckenraketen vernichten.


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Brüssel. Die Europäer müssen sich im Bereich Sicherheitspolitik auf stürmisches Wetter gefasst machen. Nach Jahrzehnten relativer Sicherheit, die mit der Entspannungspolitik des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre begannen, droht nun ein Rückfall in düstere Zeiten des Kalten Krieges. Im Herbst hatte US-Präsident Donald Trump den bevorstehenden Abschied der USA aus dem INF-Vertrag angekündigt. Der Vertrag war 1987 zwischen US-Präsident Ronald Reagan und Gorbatschow abgeschlossen worden. Er untersagte den damaligen Supermächten den Bau, das Testen und den Besitz von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.

Vor allem Europa atmete damals auf. Denn die Mittelstreckenraketen, die die Sowjetunion in den 1970er Jahren aufstellen ließ und auf die die Nato mit dem sogenannten Doppelbeschluss reagierte, machten es wahrscheinlich, dass Europa zum Schlachtfeld in einem begrenzten Atomkrieg wird. Die atomar bestückbaren Raketen verkürzten die Vorwarnzeit erheblich. Der INF-Vertrag nahm dieses Damoklesschwert von Europa und erhöhte die Sicherheit des Kontinents signifikant.

Veralteter Vertrag?

Doch der Vertrag dürfte bald Schnee von gestern sein. Denn die USA werfen gemeinsam mit den Nato-Partnerstaaten Russland eine Verletzung des Vertrages vor. Moskau soll mit seinen Marschflugkörpern mit dem Namen 9M729 - die Raketen tragen den Nato-Code SSC-8 - gegen das Abkommen verstoßen. Die westliche Allianz behauptet, die Raketen würden mehr als 500 Kilometer Reichweite besitzen. Russland streitet das ab - und wirft den USA ihrerseits Verstöße gegen den Vertrag vor. Nun stellt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dem Kreml die Rute ins Fenster: "Eine letzte Chance" will er in einem Interview Russland noch geben, um einzulenken. Doch ein solches Einlenken ist mehr als unwahrscheinlich. Schon im Dezember hatte man sich im Kreml vom 60-Tage-Ultimatum der USA, das verlangte, die Raketen zu zerstören, unbeeindruckt gezeigt.

Das mag auch daran liegen, dass man sowohl in Washington als auch in Moskau mit dem INF-Vertrag mittlerweile unglücklich ist. Schließlich bindet das Abkommen nur Russland und die USA - aufstrebende Großmächte wie Indien oder China können hingegen Mittelstreckenraketen entwickeln.

Und sie tun das auch. So benötigt etwa China seine Raketen, die bis zur US-Pazifikbasis Guam reichen, um die USA von seinen Küsten fernzuhalten. Hier zu reagieren, könnte laut Beobachtern auch der eigentliche Grund für die Amerikaner sein, aus dem Vertrag aussteigen zu wollen. Nach Ablauf des 60-Tage-Ultimatums Anfang Februar könnten die USA dann wieder Mittelstreckenwaffen bauen und damit volle Handlungsfreiheit auch gegenüber China erlangen.

Gespaltenes Europa

Mit einem Ende des INF-Vertrags steht Europa nun eine neue Nachrüstungsdebatte ins Haus. Schon beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister Mitte Februar könnte darüber gesprochen werden. Stoltenberg betonte, dass er auf Dialog mit dem Kreml setze. Wenn Moskau aber an den SSC-8-Raketen festhalte, bleibe der Nato "nichts anderes übrig, als zu reagieren".

Europa ist in Fragen der Nachrüstung tief gespalten. Während man etwa in Deutschland wie in vielen westlichen Staaten fürchtet, in das Szenario der frühen 1980er Jahre zurückzufallen, setzt man in Polen und den baltischen Staaten ganz auf Nato-Abschreckung gegen Russland.