Erstmals seit dem Vorjahres-Referendum überwiegt die Zahl der Briten, die den Austritt aus der EU für falsch halten.
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London. Wenige Wochen vor den Unterhauswahlen, die Premierministerin Theresa May ein Mandat für einen "harten Brexit" verschaffen sollen, scheinen sich in Großbritannien erstmals Zweifel am Sinn des EU-Austritts zu regen. Neuesten Umfragen zufolge überwiegt zum ersten Mal seit dem EU-Referendum vom vorigen Juni die Zahl der Briten, die den Brexit-Beschluss rückblickend als Fehler einstufen.
Die vom renommierten YouGov-Institut erstellte und am Donnerstag von Londons konservativer "Times" enthüllte Meinungsumfrage hat ermittelt, dass 43 Prozent der Briten die Entscheidung noch immer für richtig, 45 Prozent sie aber inzwischen für falsch halten. Von den ursprünglichen Brexit-Wählern sind laut YouGov nur noch 85 Prozent der Überzeugung, dass sie damals die richtige Entscheidung getroffen haben. "Jetzt sagen die Wähler: EU-Austritt ist falsch", überschrieb die "Times" ihren gestrigen Bericht zu dieser Umfrage. "Bregrets" - übersetzt bedeutet das etwa Brexit-Reue -, schleiche sich ein, meinte das Blatt.
Die Regierung May besteht hingegen darauf, dass es "keinen Weg zurück" gibt. Mit der Ankündigung, Großbritannien werde auch den EU-Binnenmarkt verlassen und die reguläre Mitgliedschaft in der Zollunion aufgeben, hat sich May bereits auf einen "harten Brexit" festgelegt. Die Premierministerin hat in diesem Zusammenhang auch deutlich gemacht, dass sie einen Wahlsieg am 8. Juni als Vertrauensbeweis der Nation für alle Regierungsentscheidungen bei den anschließend beginnenden Austritts-Verhandlungen betrachten würde.
Mays konservative Partei führt in allen Umfragen mit dramatischem Vorsprung vor der oppositionellen Labour Party. Wegen des britischen Mehrheitswahlrechts, bei dem die jeweiligen Sieger aus den 650 Wahlkreisen ins Unterhaus einziehen, darf May wohl mit einer klaren absoluten Mehrheit an Sitzen rechnen.
Mit Aufrufen zu "taktischen" Wahlentscheidungen hoffen Oppositionspolitiker dennoch, in letzter Minute einen solchen "Tory-Erdrutschsieg" zu vereiteln. So haben zum Beispiel die britischen Grünen erklärt, dass sie im West-Londoner Wahlkreis Ealing die auf schwachen Füßen stehende Labour-Kandidatin unterstützen. Auch im Wahlkreis Brighton Kemptown, an der englischen Südküste, helfen die Grünen Labour gegen die Konservativen aus. Im Nachbar-Wahlkreis Brighton Pavilion, dem einzigen von den Grünen gehaltenen Sitz, stecken wiederum die Liberaldemokraten zurück, um der Grünen-Vorsitzenden Caroline Lucas die Wiederwahl zu erleichtern.
Labour hat sich bisher geweigert, zugunsten einer "progressiven Allianz" gegen einen "Tory-Brexit" ähnliche Kompromisse einzugehen. In einzelnen Wahlkreisen scheinen Labour-Ortsvereine entsprechenden Vereinbarungen aber nicht abgeneigt zu sein. Auf der Gegenseite will die rechtspopulistische Ukip keine eigenen Kandidaten gegen Hardline-Brexiteers des Tory-Lagers aufstellen. Allerdings hat Ukip auch Probleme, genug eigene Kandidaten für die Wahlen zu finden.
Mehrere überparteiliche Initiativen ziehen ebenfalls gegen einen "harten Brexit" - und gegen Brexit überhaupt - zu Felde. Das meiste Aufsehen erregt die Finanzexpertin Gina Miller, die per Crowdfunding bereits mehr als 300.000 Pfund zur Unterstützung pro-europäischer Kandidaten zusammengetragen hat. Miller war es auch, die voriges Jahr vor Gericht zog, um gegen den Willen der Regierung parlamentarische Mitsprache bei der EU-Austrittserklärung Großbritanniens durchzusetzen.