Die Rolle von Mitgefühl in der Musiktherapie: Weltkongress der Musiktherapeuten in Krems.
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Krems/Wien. Der Versuch, anderen mit dem Mittel der Musik zu helfen, gehört zur Kulturgeschichte der Menschheit. Schon vor 4200 Jahren komponierten die Sumerer Tempelhymnen für Kranke. In der Antike wurden Erkrankungen als Zustände der Unordnung begriffen, Musik diente der Wiederherstellung der geistig-psychischen Harmonie. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich schließlich unterschiedliche therapeutische Richtungen: "Wir verfolgen heilpädagogische, psychotherapeutische und medizinische Ansätze", erklärt Gerhard Tucek, Studiengangsleiter für Musiktherapie der Fachhochschule Krems.
Gerhard Tucek ist Organisator des bis Samstag in Krems laufenden Weltkongresses für Musiktherapie mit mehr als 1000 Teilnehmern. Das Erstaunliche ist: Obwohl die Musik seit Jahrtausenden Heilungsprozesse unterstützt, ist ihre Wirkung nur schwer mit kontrolliert-randomisierten Studien nachweisbar. "Wir wissen, dass Musiktherapie wirkt. Aber wir wissen nicht, wie, weil wir nicht genau wissen, wie Musik wirkt", sagt Tucek. So ist zwar nachgewiesen, dass das Gehirn um 30 Prozent stärker durchblutet ist, wenn das Ohr Melodien hört. "Aber die Art und Weise, wie ein Mensch sie verarbeitet, ist höchst individuell. Wir können nur auf Rückmeldungen von Patienten zurückgreifen, die sich schwer verallgemeinern lassen."
Ein Beispiel: Musiktherapie verbessert die psychische Befindlichkeit während einer Chemotherapie gegen Krebs, was den Heilungsprozess unterstützen kann. Doch welche Musik am förderlichsten ist, hängt davon ab, welche Gefühle der Patient mit einem Stück verbindet. "Der Therapeut muss ihn befragen, seine Lebenserfahrungen erkunden. Er muss Motive vorspielen und die Reaktionen verstehen, bis die ideale Musik gefunden ist. Dafür benötigt man nicht nur intellektuelle Fähigkeit, sondern auch Einfühlsamkeit. Man muss in der Lage sein, zu antizipieren, was in anderen vorgeht", erklärt Tucek. Besonders wichtig sei dies bei Wachkoma-Patienten, deren Reaktionen auf das Gehörte an Körpertemperatur, Mundbewegungen oder Muskeltonus abgelesen werden müssen.
Tucek und sein Team arbeiten an einer Studie zu den Verarbeitungsprozessen von Wachkoma-Patienten bei Musiktherapie. Über Hirnscans wollen sie herausfinden, wann ein Stück angenehm oder unangenehm ist. Denn "aufwachen kann nur, wer sich angesprochen fühlt und abgeholt wird".
In einer Pilotstudie sind der Therapeut und seine Kollegen zudem der Rolle von Mitgefühl in der Musiktherapie nachgegangen. Die Forscher maßen die Herzratenvariabilität von Probanden in Situationen, auf die ein Mensch normalerweise mitfühlend reagiert. Zusätzlich wurde das "Liebeshormon" Oxytocin im Speichel gemessen und mussten die Testpersonen psychologische Fragen zur Selbsteinschätzung beantworten. Alle Werte stiegen, wenn sie Mitgefühl empfanden.
Wirkungsnachweis
In einer weiteren Studie wollen Tucek und seine Kollegen herausfinden, ob auch Patient und Therapeut im Zuge der Therapie zu ähnlichen Werten kommen. Dann wäre Mitgefühl - und damit die Begegnung zwischen zwei Menschen - ein Indikator für die Wirkung der Musiktherapie.
Die Herzfrequenzvariabilität (HRV) wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert. Sie bezeichnet die Fähigkeit, den zeitlichen Abstand zwischen zwei Herzschlägen zu verändern, um sich den Erfordernissen anzupassen. Körperliche Beanspruchung oder psychische Belastung bringen eine Erhöhung der Herzfrequenz, die bei Entlastung und Entspannung wieder sinkt. Die HRV erfasst Veränderungen des Blutdrucks, des Tag-Nacht-Rhythmus, der Monatszyklen und anderer zeitlicher Abläufe im Körper. Da Musik ein zeitlicher Ablauf ist, kann sie Einfluss nehmen auf die Abfolge - und sie in Takt bringen.
Der Wiener Gesangstherapeut Jaan Karl Klaasmann formuliert es so: "Wenn wir den Organismus als 3D-Struktur wahrnehmen mit Nieren, Herz und Adern, trifft das das Wohlbefinden eines Menschen nicht zur Gänze. Wenn wir eine vierte Dimension zur Hand nehmen, indem wir die unterschiedlichen Rhythmen, die sich im Körper gleichzeitig ereignen, mitbedenken, ist die Wirkung der Musiktherapie leichter zu verstehen. Wie eine Stimmgabel ein Klavier zum Klingen bringen kann, erinnert die Musiktherapie den Körper gewissermaßen an den gesunden Zustand."