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Auf den Spuren von Hadschi Murad

Von Lucian O. Meysels

Politik

Mit Verwunderung und wachsendem Entsetzen reagiert die westliche Öffentlichkeit auf die bisher vergeblichen Bemühungen der beiden stärksten Militärmächte der Welt, sich gegen "primitive" Terroristen und Freischärler durchzusetzen, die sich ihrerseits einer fanatischen und teilweise mittelalterlichen Tradition verpflichtet fühlen, in der das menschliche Leben - der Täter wie der Opfer - offensichtlich keinen Wert hat.


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Von jener klammheimlichen Bewunderung, die anfänglich dem Widerstand der Iraker, aber sicherlich der Tschetschenen und anderen nahöstlichen Islamisten entgegengebracht wurde, ist nach den letzten Anschlägen im Kaukasus nicht mehr viel übrig geblieben.

Das sollte man zumindest annehmen, wenngleich neuerdings der Antiamerikanismus nach einer Pause, bedingt durch "Grund Zero", in der westlichen Welt wieder "fröhliche Urständ'" feiert.

Inzwischen hat aber der Horror im Kaukasus andere Krisen aus den Schlagzeilen verdrängt. Überraschend kam das aber nicht, denn was sich heute in der europäisch-asiatischen Grenzregion abspielt ist wahrlich ein historisches Phänomen. Vergessen - oder schlechthin unbekannt - ist die Tatsache, dass diese Region, in der angeblich die biblische Arche Noah gelandet ist, vom zaristischen Russland keineswegs im Handumdrehen - wie das kaum bevölkerte Sibirien erobert wurde, sondern nur nach einem blutigen Krieg im 19. Jahrhundert zwischen 1813 und 1864 besetzt, und danach "integriert" wurde.

Der russische Kolonialismus war, wenn man es genau nimmt, ein Nachzügler, verglichen mit analogen Bewegungen der "klassischen" Kolonialmächte England, Frankreich, Spanien und Portugal, die bereits im 15. Jahrhundert eingesetzt hatten. Der russische "Drang nach Südosten" hatte mit der Teilung Polens (unter aktiver Beteiligung Österreichs und Preussens) und dem Vorstoß Katharinas der Großen zum schwarzen Meer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen. Er erfolgte jedoch nicht zur See, wie im Westen, sondern auf dem Landweg. Russland war zur See -trotz der Bemühungen Peters des Großen - mangels eisfreier Ozeanhäfen nie zu einer Großmacht geworden.

Der zaristische Kolonialismus jenseits der ungenau definierten südöstlichen Grenze Europas geht erst nach der - für Russland - erfolgreichen Beendigung der napoleonischen Kriege ein. Und er erfolgte von Anfang an sowohl taktische, als auch hochgesteckte strategische Ziele. Die taktischen Ziele waren leicht mit rein militärischen Mitteln zu erringen. Strategisch spukte hingegen im Gehirn des Zaren der alte Traum Napoleons herum, nämlich der "Kolonialmacht per exzellence", Großbritannien, den Weg zur "Perle des Empire", Indien, abzuschneiden, oder zumindest zu bedrohen. Und wenn Indien doch zu weit weg war, dann blieb noch immer Konstantinopel, das von einer Hochburg der Eroberer zum Sitz des "kranken Mannes in Europa" abgesunken war.

Diese beiden Gedanken waren auch der britischen Politik nicht unbekannt. Deshalb war London von Anfang an bestrebt, der russische Expansion Steine in den Weg zu legen. Sowohl im taktischen als auch strategischen Bereich.

Auch bei der Umsetzung ihrer Pläne operierten die Russen auf zwei Ebenen: In Europa durch Unterdrückung freiheitlicher Bestrebungen, wo auch immer sie das Korsett des Wiener Kongressess zu durchbrechen drohten (wie in Polen oder Ungarn). Im außereuropäischen Bereich dagegen war man eher bestrebt, zuerst die anderen zu beschwichtigen.

Ethnische Vielfalt

Zwei Beispiele: Die Kaukasusregion und die innerasiatischen Emirate. Erleichtert wurde das Vordringen der Russen durch die ethnische und religiöse Vielfalt der Bevölkerung. Politisch existierten in der Region auf dem Papier nur zwei anerkannte Mächte: Persien und die Türkei, beide im Niedergang begriffen. Im religiösen Bereich dominierten die Moslems, aber es gab auch urchristliche Kerngebiete, nämlich Armenien und Georgien, die zu den ältesten christlichen Ländern der Welt zählten, und einen Fleckerlteppich christlicher Inseln, darunter Ossetien.

Den politischen Druck verspührten die christlichen Länder im Kaukasus, nämlich Georgien und das bereits weitgehend von der offiziellen Landkarte verschwundene Armenien, das nur dank seiner Diaspera überlebte.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der moslimische Druck auf Georgien so groß, dass sich der Adel 1783 freiwillig dem Schutz der Zaren anvertraute. Einzelne georgische Fürsten erlangten so hohe Ehren. Das Land selbst geriet unter die Räder. Bereits 1801 wurde Georgien formell annektiert.

Im Krimikrieg - 1853 bis 1856 - wurden die allzu forsch vorgepreschten Russen in ihre Grenzen verwiesen. Der übrige Kaukasus und Innerasien standen den Russen jedoch offen. Wen kümmerte es in Europa, was "weit hinten in der Türkei" geschah, wie es Goethe trefflich formulierte. Die Georgier überlebten danach als Nation nur dank ihrer Kollaborationsbereitschaft, die Armenier dank der Kraft ihrer (altorientalischen) Kirche und ihrer Diaspora. Und wer hatte danach von Ossetien je gehört?

Die moslemischen Stämme des Kaukasus waren indes nicht bereit, die russische Herrschaft über sich ergehen zu lassen. Sie griffen zu ihren Waffen, selbst wenn diese hoffnungslos veraltet waren.

Der erste international bekannte Rebellenführer war ein Prediger namens Hadschi Murad, dessen Aufstand blutig unterdrückt wurde. Dass sein Name nicht in Vergessenheit geriet, verdankt er seiner Erwähnung in der klassischen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Zum Symbol des Widerstands wurde jedoch Schamil "der Aware" (die europäische Bezeichnung für einen kaukasischen Volksstamm der Maarulat, der mit "unseren" Awaren" nichts zu tun hat). Schamil war der Imam der Sekte der Muriditen in Dagestan, der dank seines Charismas die moslemischen Stämme des Kaukasus hinter seiner grünen Flagge vereinen konnte. Der 1798 Geborene war auch ein Politiker von Format. Durch geheime Kanäle veranlasste er die Briten, seine Truppen mit Waffen zu versorgen, mit denen er jahrelang den Russen die Stirn bot. 1834 rief er den "Heiligen krieg" gegen die Ungläubigen aus und schaffte es, Dagestan und Tschetschenien in einer islamischen Föderation zu vereinen. Die russischen Truppen waren von der Heftigkeit des Widerstandes überrascht und mussten sich aus den Bergregionen zurückziehen.

Division nach Division

Der autokratische Zar Nikolaus I. konnte diese Schmach natürlich nicht hinnehmen. Er sandte eine Division nach der anderen in den Kaukasus, die sich allesamt nicht durchsetzen konnten. Letztlich musste aber Schamil der Übermacht doch Tribut zollen. Es gelang ihm jedoch eine ehrenvolle Kapitulation zu erreichen. Der Rebell ging 1859 in Gefangenschaft und wurde bis 1870 in Kaluga in Festungshaft gehalten. Schließlich erlaubte man ihm eine Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten des Islam, wo er ein Jahr später, hochverehrt in Medina verstarb.

Sein Name wurde indes zur Legende. Es ist sicher kein Zufall, dass der Führer der Extremisten, Schamil Bassajew, seinen Namen trägt. Allerdings nicht den Edelmut seines Vorbildes.

In der Endabrechnung hatte der Krieg im Kaukasus doch auch einen positiven Aspekt. Die größten Köpfe der russischen Literatur - Puschkin, Lermontow und Tolstoj - dienten alle im Kaukasus und verewigten die Region in ihren Werken.

Nach der Kapitulation Schamils machte sich Russland auf die Suche nach weicheren Zielen. Das erste Ziel dieser Art war der uralte Oasenstaat Chiwa an der Seidenstraße. Der Zar bewog zuerst eine Reihe von Kirgisenhäuptlingen ihm ihr Nachfolgerecht abzutreten, wofür diese nicht einmal das biblische Linsengericht erhielten. Als ihr Souverän, der Khan, protestierte, beschuldigte ihn Russland, einer Reihe von aufsässigen Stämmen Zuflucht zu gewähren. Worauf russische Truppen einmarschierten, "um die Ruhe wiederherzustellen", während der Zar den europäischen Höfen vorgaukelte, es handle sich um "eine zeitlich begrenzte Maßnahme". Als der Khan von Bokhara seinem Nachbarn zu Hilfe eilen wollte, wurde auch sein Land von den Russen besetzt.

Innerhalb weniger Jahre erwarben die Russen dank dieser Politik Millionen von Untertanen mongolischer Rasse und einer türkischen Sprache. Nikolaj Danilewskij, der Prophet des Panslawismus, warnte den Zaren davor, diese Menschen in die Schule zu schicken: "Sollen wir ein Imperium von achtzig Millionen gründen, nur um ein paar Nomaden mit den Segnungen der europäischen Kultur bekannt zu machen?"

Kurz danach marschierten die Russen auch in der Stadt Merv ein und erreichten damit den nächsten Punkt zur Grenze Indiens. Was natürlich die Alarmsirenen in London erschallen ließ. So schrieb die Londoner "Times" "Whitehall (das britische Regierungsviertel) befindet sich in einem Zustand von 'Mervosität'." (Statue of Mervousness). Dennoch ergriff London keine Gegenmaßnahmen, aber der Zar hatte erkannt, dass er Englands politische Schmerzgrenze erreicht hatte.

1878 legte der Berliner Kongress die Grenzen in Osteuropa und den Nachbarregionen fest, wobei Russland die als Trostpreis die anatolischen Provinzen Kars und Ardahan erhielt, nicht aber die freie Durchfahrt für russische Kriegsschiffe durch die Dardanellen. Danach wurden die Balkanstaaten zu "weichen Zielen" des Panslawismus mit historischen Folgen.

Britischer Einmarsch

Der erste Weltkrieg war geradezu die logische Konsequenz. Bei Ausbruch der russischen Revolution von 1917 setzten sich vorerst die Bolschewisten im Kaukasus durch, was zum Einmarsch britischer Truppen in der Erdölregion von Baku führte. Diese zeigten sich ebenso brutal, wie das Zarenregime und ließen alle Kommissare in der Stadt hinrichten.

Die am Ende siegreichen Kommunisten gründeten eine Föderation der Kaukasusrepubliken, von denen eine, das von gemäßigten Sozialisten (Menschewiki) geführte Georgien, sogar international anerkannt wurde. Was den Kreml nicht daran hinderte, sie eine nach der anderen zu unterwandern und gleichzuschalten.

Während des Zweiten Weltkrieges deportierte Stalin einen großen Teil der moselmischen Bevölkerung des Kaukasus nach Sibirien und zündete damit jene lange Lunte, die zur gegenwärtigen Explosion führte.

Die Zukunftsperspektiven blieben vorerst weiterhin utopisch. Eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit, die es bisher nie gegeben hat, könnte zumindest einen neuen Anfang einläuten.