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"Auf den Thron folgt die Zelle"

Von Michael Schmölzer

Politik

Liberale und Muslimbrüder auf Konfrontationskurs.|Säkulare gehen gegen Staatsführung in die Offensive.


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Kairo. In Ägypten bahnt sich eine gefährliche Konfrontation zwischen den regierenden Moslembrüdern und ihren Gegnern an. Am Samstag wollen gemäßigte Islamisten - aus ihren Reihen stammt Staatschef Mohammed Mursi - und radikale Salafisten mobilmachen. Landesweit soll es Protestaktionen geben, Anhänger der radikalen Nour-Partei wollen auch den Kairoer Tahrir-Platz in Beschlag nehmen - und es damit auf eine Machtprobe ankommen lassen.

Denn der Tahrir-Platz, symbolträchtiger Brennpunkt des Aufstandes gegen Hosni Mubarak vor knapp zwei Jahren, ist seit sieben Tagen von Gegnern des Präsidenten besetzt. Gestern versammelten sich in den Abendstunden erneut Zehntausende Menschen, um friedlich gegen Mursi zu demonstrieren, Hunderte übernachteten in Zelten. Zuletzt konnte ein direktes Zusammentreffen der verfeindeten Gruppierungen verhindert werden - die straff organisierten Muslimbrüder sagten ihre Kundgebungen in letzter Minute ab. In der Hafenstadt Alexandria und in der Industriestadt Al-Mahalla ist es bereits zu Schlägereien zwischen Islamisten und Säkularen gekommen.

Ausschreitungen in Kairo

Vor allem aber gerieten Demonstranten und Polizei aneinander. Nachdem am Dienstag 300.000 Menschen auf die Straße gegangen waren, kam es gestern zu Zusammenstößen. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas gegen Vermummte ein, es flogen Steine. Mursi-Gegner sammelten rauchende Tränengas-Kanister und bewarfen damit Polizisten, die ihrerseits zahlreiche Randalierer verhafteten.

Die Kundgebung am Dienstag war die größte seit dem Sturz Mubaraks 2011. Zu den Protesten hatten liberale und sozialistische Gruppen aufgerufen, die die Revolution zunächst angeführt, dann aber immer mehr an Einfluss verloren hatten. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass auch gemäßigte Muslime die Amtsführung Mursis zunehmend kritisch sehen.

Der Präsident hat zuletzt die Justiz entmachtet. In einem Verfassungszusatz verfügte er, dass von ihm "zum Schutz der Revolution getroffene Entscheidungen" rechtlich nicht mehr angefochten werden können. Der Berufungsgerichtshof hat daraufhin aus Protest seine Arbeit eingestellt. Die Angst geht um, dass Mursi Ägypten zu einem autoritären Staat macht, in dem die bürgerlichen Freiheiten nicht mehr gelten. Die Rede ist von einem "Mohammed Mursi Mubarak" und einem "Pharao" - eine Bezeichnung, die ausschließlich auf den gestürzten Machthaber angewandt worden war. "Oh Mubarak, sag Mursi, auf den Thron folgt die Zelle", skandieren die Demonstranten.

Seit Mursi im Juni den Generälen wie vereinbart das Ruder aus der Hand genommen hat, arbeitete er beständig an der Ausweitung seines Einflusses. Zunächst hatte er nach Intervention des Militärrats sein Amt mit geringen Kompetenzen übernommen. Seit August jedoch hält er den Gesetzgebungsprozess weitgehend in Händen. Das Unterhaus des Parlaments ist aufgelöst, weil die Wahl angeblich nicht verfassungskonform war. Wie bereits Mubarak vor ihm hat Mursi zudem den Oberbefehl über die Streitkräfte übernommen. Der Verfassungsrat, der die künftig gültigen politischen Spielregeln festlegen soll, ist ebenfalls von Islamisten dominiert - Liberale und Linke haben das Gremium aus Protest verlassen. Eine neue Verfassung soll bis Februar stehen, weite Teile des politisch-gesellschaftlichen Spektrums fühlen sich nicht berücksichtigt - darunter Christen und Frauen. Doch mit Mursi, hört man jetzt immer öfter, sei ein Dialog unmöglich. Am Dienstag meldete sich der Ex-Präsidentschaftskandidat und führende Oppositionspolitiker Amr Mussa zu Wort: Angesichts des Unmuts unter der Bevölkerung habe es keinen Sinn, dass der Verfassungsrat die Arbeit an einem Entwurf abschließe. Die Konventsmitglieder haben ihre Arbeit am Mittwoch beendet, bereits heute könnte über den Entwurf abgestimmt werden.

Liberale verlangen ihr Recht

Die liberalen und fortschrittlichen Ägypter, die in Kairo die Mehrheit stellen, beharren auf der Umsetzung ihrer Vorstellungen von Freiheit und Demokratie; jenen Forderungen, die die Triebfedern der Revolution 2011 waren. Nachdem man erst Mubarak und später den gefürchteten Militärrat überwunden hat, will man jetzt einen autoritär-islamischen Kurs nicht zulassen. Damit wächst aber die Gefahr, dass Anhänger und Gegner der Staatsführung blutig aneinander geraten. Seit der Amtsübernahme Mursis konnte eine blutige Konfrontation vermieden werden - was viele politische Beobachter überrascht hat. Immer öfter steht jetzt die bange Frage im Raum, wie lange das noch so bleiben wird. Friedensnobelpreisträger und Ex-IAEO-Chef Mohammed ElBaradei warnt vor einem "Bürgerkrieg", sollten die gemäßigten Kräfte in Ägypten keine Stimme bekommen. Verschiedene Medien kommentieren, dass die regierenden Muslimbrüder demnächst in einer zweiten Revolutions-Welle einfach hinweggefegt werden könnten.