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Auf der liberalen Überholspur

Von Siobhán Geets aus Brüssel

Politik

Margrethe Vestager gilt als mutige Kämpferin, auch jenseits von Brüssel. Die liberale Spitzenkandidatin will die EU wieder zusammenführen. Kann die Dänin die Sorgen der Bürger in den östlichen Mitgliedstaaten überhaupt nachvollziehen?


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Brüssel. Margrethe Vestager wirkt wie jemand, der eben aus dem Urlaub zurückgekommen ist. Schwer zu glauben, dass die Spitzenkandidatin der liberalen Alde-Fraktion knapp zwölf Stunden zuvor noch im Brüsseler Plenarsaal stand, um mit ihren Konkurrenten zu diskutieren. Wie diese will auch Vestager den Konservativen Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsidentin beerben. Es sind anstrengende Tage für die Dänin, doch sie scheinen keine Spuren hinterlassen zu haben. Mit einem Lächeln betritt Vestager den Besprechungsraum im dritten Stock des Europaparlaments, schüttelt den rund 15 Journalisten die Hand, bevor sie Platz nimmt.

In den folgenden 25 Minuten antwortet Vestager knapp, vielen spannenden Fragen weicht sie aus. Mit welchen anderen Fraktionen die liberale Alde künftig zusammenarbeiten könnte, fragt eine Journalistin. "Es ist nicht die Zeit dafür, das festzulegen", sagt Vestager. Man brauche eine breite Koalition, die sich in den fundamentalen Themen einig ist. "Einige dieser Fundamente sind in Gefahr: etwa Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit". Viele Journalisten nicken.

Die meisten von ihnen kommen aus östlichen Mitgliedstaaten, es sind Ungarn, Polen und Rumänen, die wissen, wovon Vestager spricht. Ihre Fragen drehen sich mehr um die Situation in ihren Herkunftsländern als um die liberale Spitzenkandidatin und ihre Aussichten, EU-Kommissionspräsidentin zu werden. Viele von ihnen, das wird deutlich, fühlen sich von der EU im Stich gelassen. Eine Rumänin fragt, ob Brüssel überhaupt die richtigen Werkzeuge hat, um der Regierung in Bukarest einen Schuss vor den Bug zu setzen. Wegen Einschnitten ins rumänische Justizsystem hat die EU-Kommission eine letzte Warnung an die sozialliberale Regierung in Bukarest ausgesprochen: Falls es weitere Schritte in die falsche Richtung gebe, werde Brüssel ein sogenanntes Rechtsstaatsverfahren nach Artikel sieben einleiten. "Reicht das? Ist Artikel sieben genug?", fragt die Journalistin zwei Mal. Vestager weicht auch hier aus. "Bricht man Versprechen, hat das Konsequenzen, das betrifft jedes Land", sagt sie. "Keiner kann sagen: Wir nehmen die Fördergelder, halten aber die Rechtsstaatlichkeit nicht ein."

Man merkt: Hier sitzt nicht nur eine engagierte EU-Kommissarin und ambitionierte Anwärterin auf den Chefposten, hier treffen auch zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite Vestager, die mit 21 Jahren in die Politik ging, mit 29 Ministerin wurde und sich als EU-Wettbewerbskommissarin mit mächtigen Konzernen anlegte. Auf der anderen ein Dutzend Journalisten aus den neuen Mitgliedstaaten, die wissen, wie es um ihre Länder bestellt ist, die auf Korruptionsskandale hinweisen und darauf, dass die Wahlbeteiligung etwa in der Slowakei 2014 gerade einmal 13 Prozent ausgemacht hat.

Unangenehme Spenden

Wie will Vestager diese Menschen von der EU überzeugen, ihnen zeigen, dass die Mitgliedschaft ihr Leben verbessert hat? "Wir müssen hier, wie überall anders auch, zeigen, dass wir das ändern können", sagt die Liberale. Die nächste Kommission solle zur Hälfte aus Frauen bestehen. Doch wird das die Slowaken überzeugen? Werden sie deshalb EU-freundlicher werden? Darauf gibt es keine Antwort.

Jeder Journalist, so wurde vereinbart, darf eine Frage stellen. Die "Wiener Zeitung" entscheidet sich dafür, die Spenden an Vestagers Fraktion anzusprechen. Die Liberalen im EU-Parlament haben 425.000 Euro von großen US-Konzernen angenommen. Darunter war auch Google - ausgerechnet jener Suchmaschinenriese, gegen den Vestager als Wettbewerbskommissarin Milliardenstrafen verhängt hatte. Auf die Frage, ob die Liberalen hier in einen Interessenskonflikt geraten, folgt die denkbar knappste Antwort: "Ich hatte damit nichts zu tun. Die Partei hat außerdem beschlossen, diese Spenden zu stoppen."

Vestager ist kritische Fragen nicht gewohnt. Der Respekt für die Liberale ist auch außerhalb Europas groß, schließlich war sie mutig genug, sich mit Wirtschaftsgiganten wie Google und Apple anzulegen. In ihrer Rolle als Wettbewerbskommissarin wurde sie zum Polit-Star, in Dänemark war sie die jüngste Ministerin aller Zeiten. Vestager war Vorsitzende der sozialliberalen "Radikal Venstre", sie führte das Wirtschafts- und Innenresort, bevor sie 2014 nach Brüssel wechselte. Daheim wurde sie zur "Dänin des Jahres" gewählt. Der preisgekrönten dänischen Fernsehserie "Borgen" diente sie als Inspiration.

Vestager ist eine der beliebtesten EU-Politikerinnen, in Brüssel gilt sie als liberaler Leuchtturm. Dass sie beliebter ist als ihr Arbeitgeber, ist Segen und Fluch. Spürbar wird das, wenn sie zu Affären befragt wird, für die sie nichts kann.

Für vieles nicht verantwortlich

Zwischenfälle wie die Spendenaffäre dürften Vestager besonders ärgern. Sie spricht gerne von Transparenz, von Gerechtigkeit und einer Union, die die Menschen wieder ernster nimmt. Tatsächlich kann man sie für vieles, das in Brüssel schiefläuft, nicht verantwortlich machen.

Vestager, das muss man ihr lassen, ist eine der wenigen Politikerinnen, die Fehler einräumt. Eine lettische Journalistin sagt, die Menschen dort fühlten sich nicht verstanden von der EU, vor allem im Bereich Sicherheit - Lettland grenzt an Russland. "Hat man einen Nachbarn, der nicht zur EU gehört, dann stehen die Dinge anders", räumt Vestager ein. "Ich bereue es sehr, dass ich nicht mehr außerhalb der EU-Zentren gereist bin." Man müsse die Menschen treffen, um sie zu verstehen.

Geht der Plan der Liberalen auf, könnte Vestager bald EU-Kommissionspräsidentin werden. Es wäre ein Meilenstein, die Liberale wäre die erste Frau auf diesem Spitzenposten. Ob sie dann noch Zeit hat, in die kleinen Mitgliedstaaten am Rande Europas zu reisen, ist aber fraglich.