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Das größte Problem bei Essstörungen Besteht darin, dass die Betroffenen aus Scham und Verzweiflung nicht nach Hilfe suchen und von ihrer Umgebung als schwach eingestuft werden. Abseits aller alltäglicher Ablenkungen und Stresssituationen haben sie viel eher Erfolg. Ein Erfahrungsbericht der Ernährungsumstellung in einer geschützten Umgebung.
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"Das Kamel klettert die Leiter hoch und rutscht die Rutsche wieder hinunter. Wieder hinauf und hinunter. Und dann schlendert es im Uhrzeigersinn um den Nabel. Spüren Sie Ihren Bauch. Atmen Sie tief ein und spüren Sie in sich." Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich meinen Körper wieder bewusst wahrgenommen, gespürt und genossen habe. Diese Bauchselbstmassage als "Abschied" von einem treuen Begleiter, Beschützer, Aufpasser und Verbündeten, der in den letzten Jahren immer größer und größer wurde. Doch nun hieß es loslassen und ihn zu verabschieden. Ohne Vorwürfe, ohne Reue und in dem Wissen, dass es andere Möglichkeiten gibt, als seine Emotionen und Problem in sich hineinzufressen.
Auf dem Weg von meiner Wohnung bis zum Arbeitsplatz finden sich fünfzehn Bäckereien, sieben Filialen eines großen US-amerikanischen Fast-Food-Restaurants, sechs Supermärkte und vier Eissalons. In der Straßenbahn wird nicht nur gelesen, sondern auch gegessen. Und kaum sind die Spiele der Fußball-EM abgepfiffen, wird eifrig für Süßwaren, Fertiggerichte und Knabbereien geworben. Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen? Hat Sie das gestört? Und haben Sie schon einmal darauf geachtet, in wie vielen Fernsehserien eigentlich andauernd gegessen wird?
Sollten Ihnen all diese kleinen feinen Dinge noch nicht aufgefallen sein, so sind Sie vermutlich mit Ihrem Körper zufrieden. Essen spielt keine übermäßige, gar übermächtige Rolle in Ihrem Leben. Doch in meinem Fall ist der Alltag mit all seinem Stress eine einzige große Welt voller Lebensmittel und Versuchungen. Und seit mehr als 30 Jahren verliere ich regelmäßig den Kampf gegen ungesunde Lebensmittel und ziehe dann doch immer wieder einen Abend vor dem Fernseher einer möglichen schweißtreibenden sportlichen Aktivität vor.
Doch irgendwann muss Schluss sein. Der eigene Körper scheint in den meisten Fällen keinerlei Priorität zu haben. Nur allzu oft wird er malträtiert, vollgestopft, durch zu viel oder zu wenig Bewegung geschwächt und so lange ignoriert, bis Schmerzen und Krankheiten an ihn erinnern.
Opferrolle
Auch mein eigener Körper ließ sich lange mästen und dehnte sich brav mit dem Zuviel an Nahrung mit. Doch irgendwann waren 138 Kilogramm bei 177 Zentimeter Körpergröße doch zu viel. Irgendwann habe ich mein Körpergefühl verloren. Ich habe mich nie so dick gefühlt wie ich war, gefangen in einem anderen Körper, den man nicht akzeptieren will. Immer wieder die Hoffnung, einmal abnehmen zu können, um dann doch viel zu schnell die Flinte ins Korn zu werfen und sich der Illusion hinzugeben, dass man zu schwach sei, um wirklich Gewicht zu verlieren. Die Opferrolle scheint ein zentrales Element im Verlust des eigenen Körpergefühls zu sein. Bricht man aus ihr aus, ist der erste Schritt getan. Nimmt man sie an, so kann man sich und damit seinen "wahren" Körper nicht finden.
Es war daher dringend notwendig, einen größeren Schritt zu wagen. In meinem Fall bedeutete dies, dass ich drei Wochen in ein Fünf-Sterne-Hotel gehen würde, um meinen Körper wieder zu entdecken. Klingt seltsam? Doch für mich war es der richtige und dazu noch ein ganz wichtiger Schritt.
Ich habe mich dazu entschieden, ein dreiwöchiges Metabolic-Balance-Programm im Falkensteiner Balance Resort Stegersbach an den Beginn meiner Reise zu meinem neuen Körper zu stellen. Gemeinsam innerhalb einer Gruppe Gleichgesinnter, fern vom hastigen Alltag unter medizinischer Betreuung, rund um die Uhr versorgt, bekocht und behütet, war ich bereit, mich in das Abenteuer zu stürzen. Metabolic Balance ist eine Ernährungsumstellung, bei der aufgrund von Blutwerten ein Speiseplan erstellt wird, der eine ausgewogene Ernährung sicherstellen und dabei - aufgrund reduzierter Mengen und mit einigen Vorgaben - eine deutliche Gewichtsreduktion erzielen soll. Ein deutscher Arzt namens Funfack entwickelte das Konzept, das im Gegensatz zu Diäten dazu führen soll, dass man seine bisherigen Muster durchbricht und wieder bewusst isst, lebt und seinen Körper wertschätzt.
Wenn viele übergewichtige Menschen an mehreren Tischen sitzen und nicht wissen, was die kommenden Tage bringen werden, dann dürfte man es mit einer Gruppe Abnehmwilliger, in unserem Fall mit "Metabolikern" zu tun haben. Da saßen wir also. Voller Elan.
Der erste Erfolg war also schon am ersten Abend erreicht. Hier saßen wir alle im gleichen Boot. Mathilda, eine rüstige Mitsiebzigerin, die als Unternehmerin und Alleinerzieherin nach dem Ausstieg aus dem Beruf Einsamkeit und Langeweile in Schnitzel und Süßwaren ertränkte. Nicole, Ende 30, bis einen Tag vor dem Start ins neue Leben in einer Beziehung. Dann nützte ihr (Ex-)Freund die Gelegenheit und ihre dreiwöchige Abwesenheit, um sie in den Wind zu schießen - Begründung: Sie wäre zu fett und hässlich geworden. Um die Dimension dieser Lebensgeschichte zu verstehen, muss man wissen, dass dieser Freund selbst 120 Kilo wog und Nicole stets nur als minderwertige und faule - weil nur einen Vollzeitjob und nicht auch noch in der Freizeit mit Zusatzjobs mehr Geld heimbringende - devote Wochenendpartnerin betrachtet wurde.
Michaela, eine "lustige Dicke", die schon einmal 30 Kilogramm abgenommen und nun wieder 40 zugenommen hatte. Aus beruflichen Gründen müsse sie viele abendliche Essenstermine wahrnehmen, eine Diät würde sich da nur schwer ausgehen. Und eigentlich war sie gar nicht so lustig, aber wer will schon unfreundliche unglückliche Dicke um sich haben? Würde dies die Menschen nicht daran erinnern, wie sie nie sein wollen?
Beate, Anfang 40, nach zwei Geburten und dem Stress als Mutter und Angestellte, etwas "auseinander gegangen", dafür aber immerhin als Einzige in der Runde schon mit einer gewissen inneren Körperlichkeit ausgestattet. Oder Christiane, die eigentlich noch fünf Kilo von ihrem Wunschgewicht entfernt war, dies aber nun schon monatelang nicht erreichen konnte und sich somit für eine einwöchige Metabolic-Kur entschied, um ihr Ziel endlich zu erreichen. Als Hahn im Korb war meine Aufgabe zu Beginn der "Mission UHU" (www.wienerzeitung.at/missionuhu) - dem Versuch, innerhalb eines Jahres mein Körpergewicht von mehr als 135 Kilogramm auf unter hundert Kilo zu bringen - eine denkbar einfache: Sei lustig und unterhaltsam.
Befreiung
Diesen Wesenszug hatte ich eigentlich schon immer. Lustig und unterhaltend, auch wenn mir gar nicht danach war. Aber wer fragt eigentlich ehrlich, wie es einem geht? Wer möchte die echte Antwort darauf hören? Und wer wird denn nicht als Pessimist oder Suderant wahrgenommen, wenn er oder sie leidet? Doch hier im Falkensteiner Balance Resort gab es eine Subkultur. Wir waren alle dick. Wir wussten, dass wir eben nicht glücklich waren.
Am Anfang stand ein leichtes Abendessen. Fisch, kein Salat, kein Alkohol. Das Gläschen Bittersalz wurde aufs Zimmer mitgenommen, um am nächsten Morgen vor der Blutabnahme getrunken zu werden. Diese erfolgte im Rahmen des ersten Arztgesprächs. Ein Kritikpunkt an Metabolic Balance lautet, dass vielfach nicht medizinisch ausgebildete Personen die Ernährungspläne nur verteilen würden. Hier in Stegersbach jedoch gibt es mit Vera Ranftl eine auf Metabolic Balance spezialiserte Ärztin, die zudem aus der F.-X.-Mayr-Schule kommt und daher das Thema gesunde und bewusste Ernährung auf ihre Fahne geheftet hat. Unterstützung bekommt sie vom Sterne- und Haubenkoch Peter Jungbauer, der mit seinem kongenialen Kochkompagnion Herrn Beck beweist, dass gesunde Ernährung nichts mit fad oder geschmacklos zu tun hat - ganz im Gegenteil.
Auf das Arztgespräch folgte das Frühstück im angenehmen Ambiente des Restaurants, aber separiert von den "normalen" Hotelgästen. Ein äußerst sinnvolles Konzept, denn immerhin will man sich nicht die Speisen aus dem 5-Sterne-Restaurant ansehen, wenn man selbst seine Speisen vom Ernährungsplan bekommt. Es gab Schafjoghurt mit Zimt-Äpfeln.
Dann begann das Leben nach einem Essens- und Bewegungsplan. Wobei die Bezeichnung Bewegung durchaus treffend ist, denn von Sport wird in der Anfangsphase der Ernährungsumstellung bewusst abgeraten. Die Leiterin des Spa-Bereichs im Balance Resort Stegersbach, die Sportwissenschafterin Michaela Hösch, zeigt mit einem großen Team, wie Aqua Gymnastik, leichtes Nordic Walken und bewusstes Atmen in dieser Anfangszeit den Stoffwechsel richtig ankurbeln.
Die ersten beiden Entgiftungstage waren von Bittersalz und dessen Auswirkungen geprägt. Kopfschmerzen waren an der Tagesordnung, aber was tut man nicht für seinen Körper. Nach zwei Tagen - zu essen gab es mittags gekochte Erdäpfel mit Joghurtsauce und abends Basensuppe - ging die eigentliche Metabolic-Reise erst los. Medizinische Vorträge und eine Ernährungsberatung waren ebenso Teil des Programms wie ein Kochkurs und Bewegungseinheiten.
Zwischen den Mahlzeiten fünf Stunden Pause, nur ein Eiweiß pro Mahlzeit, etwas Roggenbrot, sonst keine Kohlenhydrate. Und nur Speisen aus der personalisierten Lebensmittelliste. Für viele Menschen sind diese Vorgaben im Alltag nur schwer einzuhalten, vor allem zu Beginn. In den nächsten Tagen und Wochen zeigte sich dann, wie einfach eine Ernährungsumstellung sein kann, wenn man nicht selbst kochen, nicht selbst einkaufen gehen - und dabei den Süßwaren und Verlockungen ausweichen muss. Das einzige erlaubte Genussmittel - schwarzer Kaffee. Interessant, wie sehr man Kaffee will, wenn man nichts anderes darf. Und noch interessanter, wonach Kaffee schmecken kann, wenn man sich die Zeit nimmt.
Nun liege ich also hier auf dem Rücken, am letzten Tag meines Aufenthalts und massiere meinen Bauch. Sanft streiche ich mit der Hand vom Nabel seitwärts nach oben. Das Kamel geht auf die Leiter - und dann nach unten - und rutscht wieder hinunter. Ich habe in drei Wochen ein neues Körpergefühl bekommen. Meine Gewichtsabnahme beträgt etwa sechs Kilo, aber das Wohlgefühl ist ungemein höher. Ich weiß nun über meine richtigen Portionsgrößen Bescheid und gehe mit dem Wissen nachhause, dass ich mein Ziel erreichen werde.
Artikel erschienen am 6. Juli 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 8-11