Was ist die wichtigste Norm für unser Zusammenleben?
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Konfrontiert mit einer mitunter grotesk unübersichtlichen Umwelt, kann es hilfreich sein, sich die Frage nach dem wirklich Wichtigen zu stellen. Und dann das bereits als wichtig Destillierte noch einmal zu reduzieren, auf die eine große Sache, die alle anderen übertrifft. Was wäre etwa das eine Gesetz, dessen Quintessenz unsere, das heißt die österreichische, Gesellschaftsordnung auf den Punkt bringt?
Ein Kandidat dafür liegt auf der Hand: Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes. "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", womit Staatsform und Herrschaftsform rechtlich festgelegt werden. Diese zwei Sätze würde Norbert Hofer im Falle seiner Wahl statt seines Porträts in allen Klassenzimmern und Amtsräumen des Landes aushängen.
Von den 23 Artikeln des Allgemeinen Teils des B-VG käme ansonsten wohl nur noch die Nummer sieben, Absatz eins, in die engere Auswahl: "Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen." Die übrigen 21 Artikel beschäftigen sich völlig pathosfrei mit zweifellos wichtigen staatsorganisatorischen Details, mehr aber auch nicht.
Aber es gibt ja auch noch andere Quellen, etwa im ABGB, dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, das vor über 205 Jahren in Kraft getreten ist. Damals regierte, das nur zur Verdeutlichung, Kaiser Franz I., und Clemens Fürst Metternich stand am Beginn, einer Epoche seinen Stempel aufzudrücken. "Eine Rechtsquelle allerersten Ranges", hat Ex-Bundespräsident Heinz Fischer das ABGB einmal genannt.
Für den Wiener Verfassungsrechtler Manfried Welan symbolisiert §16 des ABGB das Kernstück unserer Rechtsordnung. Im Wortlaut heißt es hier: "Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet." Fischer zitierte in diesem Zusammenhang René Marcic, der diesen Paragrafen als "das Baugesetz aller Baugesetze der österreichischen Rechtsordnung" bezeichnete.
In die gleiche Kerbe wie §16 des ABGB schlägt auch Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Es ist eine dieser beiden Normen, die Welan statt des Bildnisses des Bundespräsidenten als Sinnbild der Republik öffentlich aushängen würde.
Natürlich könnte man auch den Standpunkt vertreten, die Sache mit der unantastbaren Menschenwürde ist zumindest in unseren Breiten durch, weshalb Werte wie freie Wahlen, Meinungsfreiheit, das Recht auf Eigentum und vor allem die Verpflichtung des Staates, nur auf Grundlage von Gesetzen zu handeln, an Bedeutung gewinnen.
Die Frage nach der einen Norm, die wichtiger ist alle anderen, ist natürlich abstrakt-hypothetisch. Und trotzdem hat es einen Sinn, zumindest zu versuchen, zum innersten Kern unserer Gesellschaftsordnung vorzudringen.