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Auf der Suche nach Verständigung

Von Siglinde Bolbecher

Politik

Otto Binder, Schwiegervater von Bundespräsident Heinz Fischer, wird morgen um 14 Uhr in der Feuerhalle Simmering verabschiedet. Der langjährige Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung ist am 15. Februar unerwartet an einem Herzversagen im 96. Lebensjahr verstorben. Als ehemaliger illegaler revolutionärer Sozialist emigrierte Binder 1939 nach einem Jahr KZ-Gefangenschaft nach Stockholm.


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"Vielleicht habe ich es leicht weil schwer gehabt." - Theodor Kramer an Hilde Spiel, Guildford, 24.7. 1955

"Über Freunde und Bekannte haben wir nichts zu berichten, weil keine mehr hier sind", schrieb Hermine Binder am 17. März 1942, in einem ihrer letzten Briefe aus Wien, vor der Deportation, an ihren Sohn Otto, der nach einem Jahr KZ-Gefangenschaft (Dachau, Buchenwald) 1939 nach Stockholm emigrieren konnte. Daß ihr Sohn nach Wien zurückkehren sollte, eine Stellung bei der Wiener Städtischen Versicherung, jener Firma, die ihm 1934 nach § 27 des Angestelltengesetzes (länger dauernde Haft) gekündigt hatte, annehmen und schließlich für 22 Jahre deren Generaldirektor werden würde, konnte sie nicht erleben und nicht erahnen, wußte ihn aber doch gerettet.

Man hat sich einen jungen Mann vorzustellen, talentiert, wissbegierig, mit hohen Ansprüchen sich selbst gegenüber, auf den die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis in die persönlichste Sphäre eingewirkt haben: Von der Herkunft verwurzelt in der "Normalität" von Armut und Zurückgesetztheit einer jüdischen, "bewußt assimilierten" Familie. Vaterlos aufgewachsen (Julius Binder starb 1915 als Soldat in Galizien), mußte er das Gymnasium vorzeitig verlassen und den Weg finden, auf dem man möglichst schnell auf eigenen Füßen stehen kann. Kaufmännische Lehre, kurze Anstellung, arbeitslos.

Kontakte, Tätigkeitsmöglichkeiten, Freundschaften und Hoffnung findet er in der sozialistischen Bewegung. Ein Milieu ohne Kleinmut und depressive Verzweiflung, das an Chancen gesellschaftspolitischer Reformen glaubt. Bekanntlich kam es anders; dagegen Widerstand, dafür Verfolgung, Todesbedrohung, Exil in einem aufgeschlossenen Land.

Von einer "entscheidenden Zäsur", schrieb Otto Binder in seinen Erinnerungen ("Wien - retour", 1997), von einer zu aller erst persönlichen Entscheidung, die er und seine Frau Anna mit zwei kleinen Kindern 1949 trafen. Seit kurzem waren sie schwedische Staatsbürger und hatten in Schweden eine neue Heimat gefunden. Die "Rückkehr" war vielmehr eine "Rückholung" als "Nachwuchs in der Leitung", veranlaßt durch den ehemaligen und neuen Direktor der "Wiener Städtischen" Norbert Liebermann, der selbst aus dem USA-Exil gerade erst in Wien zu arbeiten begonnen hatte. Es ist eine nach 1945 rare Geschichte, daß aus Österreich Vertriebenen ein verlockendes, gutes Angebot unterbreitet wurde.

In unseren Gesprächen, in Abständen über Jahre hinweg, über sein Exil und die mit Rückkehr oder Nichtrückkehr verbundenen Fragen sah Otto Binder beides als gültige Möglichkeiten an und wußte von der existentiellen Problematik, die Theodor Kramer in die Worte fasst: "Erst in der Heimat bin ich ewig fremd." Binder suchte die Auseinandersetzung mit der zeitgeschichtlichen Forschung und brachte mit hoher Autorität seine persönlichen und politischen Erfahrungen ein. Im Herbst referierte Otto Binder auf dem großen Symposium "Brüche und Brücken - Exilforschung heute" (Universität Wien) zum Thema: "Rückkehr - wer musste, wer wollte, wer konnte?" Ein großer Essay, entstanden im letzten halben Jahr, über die Leitung der "Wiener Städtischen" in der NS-Zeit und das personelle Umfeld während der Entnazifizierung, erscheint jetzt posthum in der Zeitschrift "Zwischenwelt".

Beharrlich suchte Otto Binder die prägenden Erfahrungen von Diskriminierung, Unrecht und politischer Gewalt, wissend und auch immer suchend, denn die Wunden waren zwar gestillt, aber nicht verschwunden, einzubinden und fruchtbar zu machen, gerade auch in seiner langen, erfolgreichen Karriere. Seine Intellektualität zielte auf Mitteilung und Verständigung und spürte nach dem vertrauten Kern von Gemeinsamkeit. n

Mag. Siglinde Bolbecher ist Exilforscherin, Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Mitbegr. der Theodor Kramer Gesellschaft, Mithg. der Zeitschrift "Zwischenwelt" und des Lexikons österr. Exilliteratur. Wiss. Mitarb. d. DÖW.