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Auf die Alten wird vergessen. . .

Von Selina Nowak

Politik
Mit ausländischen Arbeitskräften wurde einst der heimische Arbeitskräftemangel bekämpft.
© © © Owen Franken/CORBIS

Die Zuwanderer der 60er und 70er Jahre sind ins Pensionsalter vorgerückt.


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Die sogenannte "Gastarbeiter"-Generation kommt ins Pensionsalter. Darauf müsste auch unser Gesundheitssystem reagieren, findet der Soziologe Christoph Reinprecht von der Universität Wien. Er forscht seit mehr als 15 Jahren über Alter, Migration, Integration und soziale Ungleichheit.

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"Wiener Zeitung": Wie unterscheiden sich im Alter die Lebensumstände der Migranten von jenen autochthoner Österreicher?

Christoph Reinprecht: Die Pensionseinkommen von Arbeitsmigranten sind oft niedriger, die Wohnverhältnisse schlechter und die gesundheitliche Situation ist noch problematischer als bei österreichischen Arbeitnehmern. Viele Migranten haben angenommen, sie würden wieder zurückkehren. Als dies nicht eingetreten ist, haben sie hier Netzwerke mit ihren Landsleuten gebildet. Im Alter gewinnen ethnische Zugehörigkeiten an Bedeutung. Bestehen noch Kontakte zum Herkunftsland, pendeln manche hin und her.

Klingt nicht gerade nach Engagement im Pensionistenverein.

Stattgefunden hat eine partielle Integration - in den Arbeitsmarkt, in die Sozialversicherung, aber nicht in Wissens- und Informationssysteme. Die Migranten, die jetzt alt sind, haben überwiegend keinen Deutschkurs besucht, sind in Segmenten des Arbeitsmarktes tätig gewesen, wo es nicht notwendig war, Deutsch zu sprechen. Niemand hat die Arme aufgemacht und gesagt: "Ihr seid willkommen." Die Gewerkschaft etwa hat sich lange nicht um sie gekümmert. Man war der Meinung: "Die sind eh nur kurz da, außerdem sind sie eine Konkurrenz zur Stammbelegschaft und Lohndrücker." Auch anderen Strukturen wie Freizeiteinrichtungen blieben die Migranten fern. Sie wissen oft gar nicht, was es gibt und für wen es gedacht ist.

Fallen die Alten bei den Integrationsmaßnahmen durch das Raster?

Bei Integration denkt man primär an Junge, die Alten fallen aus der Wahrnehmung raus. Die Familie hat deshalb eine extrem wichtige Funktion. Während man bei österreichischen Alten davon spricht, dass die Leute allein leben, sich auch einsam fühlen, ist hier das Gegenteil der Fall. Oft bestehen bis in die vierte Generation relativ stabile Verpflichtungsnormen.

Aber ändern sich die Familienstrukturen von Migrantenfamilien nicht im Laufe der Zeit?

Die Sozialwissenschaften haben lange gesagt, mit der zweiten Generation werde sich auch die Familie komplett transformieren. Das ist zumindest nicht durchgehend zu beobachten. Gleichzeitig passiert es aber, dass die Kinder arbeiten gehen, auch die Mädchen, dass sie sich anders sozialisieren. Dann entstehen Konflikte und durch das Angewiesensein auf die Familie vor allem Angst. Aus meiner Sicht ist das überhaupt der Kern der Verletzbarkeit der älteren Migranten.

Wer kümmert sich dann bei Krankheit um diese Alten?

Wie in österreichischen Familien werden 80 Prozent in der Familie gepflegt. Einige, die allein leben, nehmen Kontakt zu sozialen Einrichtungen wie der Caritas auf. Aber generell herrscht gegenüber diesen etablierten Einrichtungen eine gewisse Zurückhaltung, weil man glaubt, dass auf kulturelle Aspekte nicht Rücksicht genommen wird.

Zu Recht?

Das ändert sich langsam. Zunehmend gibt es auch Vereine in den ethnischen Milieus, die Pflegeaufgaben übernehmen. In Deutschland entwickeln sich aus diesen Strukturen hochprofessionelle Anbieter sozialer Dienste, die in Wettbewerb zu den etablierten Wohlfahrtsverbänden treten. Zum Beispiel Can Vital in Berlin, ein mehrsprachiger Pflegedienst, der explizit damit wirbt, auf Sprache, religiöse Bräuche und Freizeitgestaltung der Klienten Rücksicht zu nehmen. In Österreich ist dieser Trend noch viel weniger ausgeprägt, da hier die Migration etwas später eingesetzt hat. Vor allem Gruppen, die seit jeher stark organisiert sind, bauen zunehmend Versorgungsstrukturen für "ihre Alten" auf.

Von vielen wird das als Ausdruck der Parallelgesellschaft gesehen, doch es bereichert erstens den Markt, zweitens werden bestimmte Bedingungen wie Waschräumlichkeiten, Gebetsmöglichkeiten oder spezielles Essen garantiert und drittens bieten diese Vereine Arbeitsmöglichkeiten für die nachfolgenden Generationen. Die finden in den etablierten Institutionen nach wie vor große Barrieren vor, wenn es um mit Ausbildungstiteln versehene Berufsfelder geht.

Die großen Anbieter in Österreich haben mittlerweile "Kultursensible Pflege" in ihre Ausbildungsprogramme aufgenommen.

Man hat zumindest den Bedarf erkannt und bietet das eine oder andere an. Die Maßnahmen müssten viel tiefer gehen, die Mitarbeiterstruktur bis in die Führungsetagen hinein radikal geändert, Aufgaben neu definiert werden. Vielleicht müsste man überhaupt neue Dienste einführen? Ein Anbieter könnte für Pendelmigranten ganz gezielt Kooperationen mit Partnerorganisationen in den Herkunftsländern eingehen.

Werden diese selbstorganisierten Pflegegemeinschaften vom Fonds Soziales Wien (FSW) gefördert?

Der FSW fördert nur Projekte, die für alle Bevölkerungsgruppen offen sind. Ein nächster Schritt könnte sein, auf Migranten zuzugehen und ihnen Unterstützung bei der Ausbildung und Finanzierung anzubieten, unter den Voraussetzungen der FSW-Regeln. Vielleicht werden wir in fünf bis zehn Jahren eine vielfältige Landschaft von Anbietern sozialer Dienste haben, die nicht nur aus den Parteien oder etablierten Religionsgruppen kommen.