Ideen und skrupellose Politiker, die über keine Glaubwürdigkeit verfügen, stehen hoch im Kurs.
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Wien. Wirklich erstaunlich an der gesellschaftlichen Entwicklung derzeit ist die Position der katholischen Kirche. Rechtspopulisten sind gerade dabei, deren Erlösungsmonopol in Frage zu stellen. Das christliche Abendland müsse endlich verteidigt werden, so tönt es aus immer mehr europäischen Hauptstädten. Die ganz Rechten der Rechtspopulisten vermischen das mit reinrassigen Parolen, die seinerzeitige Kopfform des jüdischen Untermenschen wird aktuell mit islamischen Symbolen getauscht. Das Kebab benötigt keine krude pseudo-wissenschaftliche Begründung mehr, da genügt ein Standl. Daneben noch ein Internet-Shop, der auch Handys entsperrt - fertig ist die muslimische Invasion.
333 Jahre erfolgreich zurückgeschlagene Türkenbelagerung Wiens feierte die FPÖ jüngst - allerdings nicht auf der Simmeringer Hauptstraße, sondern im noblen Innenstadt-Palais Ferstel mit 500 festgewandeten Gästen. "Der Herrenmensch erwacht des Morgens und ist schon besser", spottete der Autor Stephan Eibel - eine gute Beschreibung, vermutlich auch für die Rechtsausleger-Veranstaltung in Linz.
Darunter (im wahrsten Sinn des Wortes) versammeln sich Bürger, die keinen Zugang zu diesen elitären Veranstaltungen ihrer Erlöser haben, und stimmen in den Chor ein: Das hat uns ein politisches Establishment eingebrockt, linke Gutmenschen und liberale Milliardäre gleichermaßen. Sie forcieren eine Durchmischung der Kulturen und Rassen, aus Naivität und Geldgier gleichermaßen. Sie nehmen uns die Jobs weg, fluten die Schulen mit ihren verschleierten Töchtern und sitzen fett auf Sozialtöpfen, sodass wir am Schluss nicht einmal mehr Platz in den Spitälern haben - wir, denen das Ganze doch eigentlich gehört. Ja, es gehört uns, dem christlichen Abendland. Nicht den irgendwie anderen. Eigentum ist ein wesentlicher Bestandteil der westlichen Werte, und diese "Zuagrasten" sollen bleiben, wo sie sind, oder sich selber aufbauen, was WIR aufgebaut haben.
Und wer ist schuld an diesem Diebstahl am christlichen Abendland? Das politische Establishment. "Diese Menschen wollen Eliten auf den Knien sehen", formuliert es Kanzler Christian Kern im Gespräch mit der "Zeit".
Was haben uns diese Eliten eingebrockt? Die EU; die Globalisierung; die Ungerechtigkeit; den Reichtum weniger; das Teilen von Armut und das Ende der sicheren Jobs. Das Establishment dagegen rafft alles in Griffweite an sich, sonst tut es nichts - diese Stimmung verbreitet sich und wird von Populisten geschickt geschürt.
Tatsächlich haben die "Administratoren" des etablierten Systems viele Fehler gemacht. Sie gingen über Jahre hindurch den Weg des geringsten Widerstandes. Europa wurde so organisiert, die Globalisierung ebenfalls. Regulierungen unterblieben, dafür wurde die Geschwindigkeit immer höher. Das "Establishment" ließ es geschehen.
Und wie weiland der Zauberlehrling in Goethes gleichnamiger Ballade wurde es die Geister, die es rief, nicht mehr los. So wurde zwar das Kapital globalisiert, doch soziale Schutzbestimmungen wurden es nicht. Am Widerstand gegen die Handelsabkommen Ceta und TTIP lässt sich gut ablesen, dass Millionen Bürger in Europa das Gefühl haben, nicht mehr mitzukommen.
Die vielen Flüchtlinge des Jahres 2015 mixten den gesellschaftspolitischen Giftcocktail fertig. Zur Überforderung gesellte sich Unsicherheit. Und jene Institutionen, die all dies zugelassen hatten, gaben plötzlich keine Antworten mehr. Denn sie wissen, dass sie Zauberlehrlinge geworden sind. Die Besen der Globalisierung gießen ununterbrochen Wasser ins übervolle Becken, doch der Zauberspruch, um den Spuk zu beenden, ist vergessen worden.
Immer neue Ungerechtigkeiten tauchen auf. Während etwa das Armutsgefälle weltweit sinkt, steigt die Ungleichheit in den entwickelten Nationen. Die vielgerühmte Mittelschicht kommt von unten und oben unter Druck.
Die technologische Entwicklung trägt zum kollektiven Gefühl der Überforderung bei. Roboter übernehmen immer mehr Tätigkeiten, die bisher von Menschen ausgeführt wurden. Die sozialen Plattformen verteilen Informationen so selektiv, dass es immer schwieriger wird, valides Wissen zu erhalten. Postfaktisch sei unser Zeitalter geworden, konstatieren Philosophen. Also indifferent.
All dem hat die Politik vulgo "Establishment" eher taten-, danach hilflos zugeschaut. Ja, man begann sogar untereinander zu streiten. Regierungen streiten, die EU-Institutionen streiten. Zur Überforderung und Unsicherheit gesellte sich bei vielen Bürgern Angst - und zunehmend Wut.
Und da das "Establishment", also Politiker, klassische Medien, Wirtschaftsbosse und Wirtschaftsfunktionäre, auch die Gesichter und Symbole einer liberalen Demokratie sind, kam die gleich mit in Verruf.
Es schlägt die Stunde der Populisten, die vorgeben zu wissen, wie man die Besen wieder ins Eck stellt - wie weiland Goethes Zaubermeister. Denn sie sind die Einzigen, die eine verständliche Antwort auf die mannigfaltigen Bedrohungen geben: Rückbesinnung auf den Nationalstaat, der sich abschotten kann; raus aus dem Land mit Andersgläubigen, die Arbeitsplätze gehören der autochthonen Bevölkerung. Und: Auf die Knie mit einem Establishment, dem wir den ganzen Schlamassel zu verdanken haben.
Dieses Gefühl ist offenkundig so stark, dass die von (vor allem) am sehr bis extrem rechten Rand angesiedelten populistischen "Zaubermeister" gar nicht hinterfragt werden. Anti-demokratische, ja autokratische Tendenzen in ihren "Zaubersprüchen" werden von immer mehr Menschen hingenommen - der Zorn auf das Bestehende macht blind.
"In die Ecke, Besen! Besen! Seid’s gewesen", heißt es bei Goethe. Ins Eck wird nun die Demokratie gestellt, und mit ihr Werte, die das von Rechtspopulisten beschworene "christliche Abendland" eigentlich erst ausmachen. Aufklärung? Fort damit. Trennung von Staat und Kirche? Brauchen wir nicht. Solidarisches Handeln der Gesellschaft? Linkslinke Gräuelpropaganda. Meinungsfreiheit? Nicht für diese Lügenpresse.
Angefeuert von weniger zimperlichen Boulevardmedien (quer durch Europa) und den Scheuklappen-Algorithmen der Internetkonzerne gewinnen diese Parteien immer stärker an Boden.
Das Establishment hat darauf keine Antwort, weil es sich auf keine einigen kann. Die Konservativen meinen, die Globalisierung müsse einfach mit Mut weitergeführt werden. Die Sozialdemokraten haben über Jahre mitgespielt, nun beginnen sie damit, neue Definitionen zu suchen. Aber bringen sie noch genügend Glaubwürdigkeit auf? Die einen sagen, nur das Diktat knapper Kassen könne Europa vor dem Kollaps retten, die anderen beklagen, dass die Sparpolitik Millionen Arbeitslose geschaffen hat.
Was die politische Elite dabei vergisst, ist die Tatsache, dass viele Menschen Überzeugungen verlangen, keine Kompromisse. So werden mit unfassbaren Milliardenbeträgen Banken gerettet, während Sozialleistungen gestrichen werden. Die Unternehmensgewinne steigen, doch die Lohnsumme nicht. Manager werden mit Boni belohnt, die höher sind als der durchschnittliche Lebens-Verdienst eines Arbeiters. Politiker, auch unfähige, ziehen sich mit üppigen Pensionen ins Privatleben zurück.
Die Geister, die sie riefen . . .
Die politische Klasse richtet es sich. Dieser Eindruck besteht seit Langem. Doch er wurde akzeptiert, solange es allen besser ging. In den wirtschaftlichen Aufholjahren nach 1945 gab es lange Zeit genug zu verteilen, selbst wenn es dabei ungerecht zuging.
Nun gibt es nichts mehr zu verteilen, und der Verteilungskampf geht eindeutig zu Lasten der Geringverdiener und der "Mittelschicht". Das alles zu korrigieren ist wahnsinnig schwierig, denn genau jene, die dieses System erschaffen haben, müssten es nun abschaffen. Man behilft sich folglich mit Placebos. So wurde eine Europäische Bürgerinitiative beschlossen. Eine Million Bürger können mit ihrer Unterschrift einen politischen Prozess auslösen. Im dazugehörigen Leitfaden der EU-Kommissionen heißt es: Sie bestimmen die Tagesordnung!
Nun, genau das ist nicht der Fall. Die diversen Klauseln reduzieren das direktdemokratische Instrument erheblich. Mit genau solchen Projekten werden die Vorurteile der Rechtspopulisten befeuert, weil es zum Urteil wird.
Eine neue Erzählung
Das Establishment, das die Geister rief, wird sie nun nicht mehr los. Und statt eine eigene Erzählung zu finden, wie die europäische Gesellschaft positiv zu gestalten wäre, verwendet es viel Energie, nicht unterzugehen.
Denn die Geschichte lautet, etwas fundamental anders zu organisieren. Die Globalisierung kann auch sozial und ökologisch definiert werden, anders wäre der Erfolg von "Fairtrade" und von Regionalität nicht zu erklären.
Die politische Struktur Europas passt da nicht mehr hinein. Natürlich müssen sich Nationalstaaten transformieren, sich in ihrer jetzigen Mitsprache über den Europäischen Rat abschaffen.
Natürlich müssen Kapitaleigentümer akzeptieren, dass Aktienkurs und Dividende mickriger ausfallen, weil die Mitarbeiter stärker am Erfolg zu beteiligen sind. Natürlich müssen Budgets neu aufgestellt werden, weil in Forschung und Bildung zu wenig Geld fließt. Natürlich muss die Verteilung der bestehenden Steuermittel effizienter werden, was in Österreich eindeutig zu Lasten der Bundesländer gehen würde. Natürlich dürfte extremen Parteien nicht mit ähnlich kleinkarierten Slogans begegnet werden.
Das ist der Mut, der anti-demokratischen Entwicklungen entgegenzusetzen ist. Oder besser gesagt: wäre, wenn das Establishment nicht am Ende doch in die Knie gehen will.