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"Auf nach Gabcikovo" - Betrachtungen eines Radfahrers

Von Beppo Beyerl

Europaarchiv

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Hinter Bratislava ist die Welt des Radlers noch in Ordnung. Der kräftige Rückenwind treibt uns auf dem slowakischen Donauradwanderweg nach Osten, und sollten wir einmal bremsen, dann landen wir mit Sicherheit in einem neben der Radpiste aufgestellten Biergarten. Die Umgebung entspricht einer netten Aulandschaft, nichts erinnert an das im Süden angrenzende Petrzalka mit seinen hässlichen Plattenbauten, eher fühlt man sich in das alte Ligetfalu zurückversetzt, wie das südlich der Donau liegende Gebiet in ungarischer Zeit hieß. "Liget" sagten die Anrainer zu einem Ausflugsrestaurant, das hier zwischen Bädern und Sportplätzen für Labung mit Speis und Trank sorgte.

Kurz vor der slowakisch-ungarischen Grenze - auf der Höhe von Cunovo - biegt der gut beschilderte Radweg nach Norden ab. Um einen weit ins Wasser reichenden Sporn zu erreichen, müssen wir einen kleinen Fluss überqueren. Wer glaubt, dass ein Fluss seinen Namen vom Fließen erhalten hat, der möge das eingefasste, denaturierte, gedämmte Wässerchen betrachten, zu dem die einst mächtige, wuchtige, reißende Donau hier degradiert wurde. Genau der richtige Ort, um vom Rad zu steigen, das Geländer zu ergreifen und sich eingehend mit der Rechtssituation des gezähmten Wässerchens zu beschäftigen.

Überlegungen für ein gemeinsames Wasserkraftwerk starteten die beiden Donau-Anrainerstaaten CSSR und die Volksrepublik Ungarn bereits in den Fünfzigerjahren. Im Jahr 1977 unterzeichneten die beiden Staaten einen Vertrag über Aufbau und Betrieb des Wasserkraftwerksystems Gabcikovo-Nagymaros. Im Folgejahr begannen auf dem Gebiet der Slowakei die Bauarbeiten, auf ungarischer Seite wartete man wegen finanzieller Probleme vorerst bis 1980. Doch die österreichischen Baufirmen, die von ungarischer Seite den Auftrag für die Errichtung der Staustufe Nagymaros erhielten, sorgten bis 1989 für ein forciertes Tempo.

In der Zwischenzeit war die ökologische Bewegung in Ungarn zu einer nicht mehr übersehenden Stärke angewachsen. Immer mehr Kritiker warnten vor einer irreversiblen Zerstörung eines historisch gewachsenen Ökosystems, andere Kritiker wandten sich gegen das ohne Bürgerbeteiligung und Anrainermitsprache zu errichtende Großprojekt.

Die ungarische Regierung entschloss sich daher am 13. 5. 1989 gegen massive Widerstände der österreichischen Baufirmen, aber gedeckt durch die Zustimmung des Großteils der heimischen Bevölkerung, den Bau der Staustufe Nagymaros einzustellen. Ganz anders die Situation auf der nördlichen Seite der Donau: Die tschechoslowakische Republik hatte schon viel Geld in ihre Staustufe investiert, die der nationalen Selbständigkeit zustrebende Slowakei übernahm das Projekt in Eigenregie. Sie betrachtete die Staustufe Gabcikovo als nationales Prestigeprojekt und setzte die Errichtung der sogenannten C-Variante durch: Ein langer breiter Kanal wurde gegraben, der das Donauwasser auf slowakisches Gebiet umleitete und dem Kraftwerk Gabcikovo zuführte. Bereits im November 1992 startete die Stromerzeugung des Speicherkraftwerkes. Und übrig blieb ein kleines Flüsschen, die Restdonau, in deren Mitte nach wie vor die Staatsgrenze verläuft. Und die ehemaligen ungarischen Vertragspartner, die auf ihrem verbliebenem Donauufer standen und sich verzweifelt die Haare rauften.

Im Wissen um die komplexe rechtliche Situation setzen wir die Fahrt mit dem Rad fort. Vor uns der schon erwähnte Landsporn, hinter dem Landsporn folgt bereits der 600 oder 700 Meter breite Zuleitungskanal zum Kraftwerk. Der Sporn ist bis auf eine kleine Landbrücke von allen Seiten mit Wasser umgeben. Weiter geht es auf dem Damm, der den Zubringer zum Kraftwerk begrenzt und schützt. Weder Biergärten noch Bufetts sind zu sehen, doch der Wind treibt uns Asphaltsegler der Staustufe entgegen. Die wenigen noch die Donau benutzenden Schiffe befahren nicht mehr die alte Donau-Rinne, sondern verkehren ebenfalls im Gabcikovo-Kanal. Der Personenverkehr sank auf der Donau nach der Zerschlagung der DDSG praktisch gegen Null.

Zwischen dem Damm mit dem Radweg und der Rest-Donau existieren einige Dörfer. Wir fahren vom Damm hinunter und kreisen in Dobrohost, später in Vojka, einige Runden. Dobrohost ist von der Slowakei durch den 400 Meter breiten Kanal getrennt. Eine Fähre sorgt einmal in der Stunde für eine kostenlose Überfuhr der Dorfbewohner. Auf der anderen Seite des Dorfes ist die Restdonau und ihr Augebiet, durch das kein Weg hindurchführt. So sitzen die Bewohner der Dörfer in der Falle. Die jungen Leute verlassen das Dorf, die Alten bleiben über. Die Bevölkerungszahl von Vojka sank von über 1000 auf 347. Anlässlich des Kraftwerkbaus wurden einige Besitzungen enteignet, der Bau neuer Häuser wurde verboten.

Die Bewohner des Dorfes dürften zur Gänze der ungarisch sprechenden Minderheit in der Slowakei angehören, ihre Situation wird dadurch auch nicht erleichtert. Ein paar von ihnen sitzen im Hostinec (Gasthaus), andere stehen vor dem kleinen Supermarkt Jednota in Gruppen zusammen. Über die wie zu Zeiten des realen Sozialismus an den Bäumen montierten Lautsprecher wird Musik eingespielt. Wir trinken hier kein Bier und fahren das letzte Stück bis zum Kraftwerk. Der Damm, auf dem wir radeln, ist 18 Meter hoch, die Rampe hat einen flachen Winkel von 30 bis 40 Grad, die Bepflanzung ist ziemlich stereotyp. Der Kanal ist mit Lehm und Schotter abgedichtet, darüber ist eine Asphaltfolie gespannt. 150 Millionen Kubikmeter Aushubmaterial mussten die Baufirmen wegschaffen, die Bulldozer vernichteten 4600 Hektar an Auwäldern und Wiesen. "Der größte von Menschenhand geschaffene Kanal" lesen wir bei der Rückfahrt auf einer Tafel.

Endlich, die Staustufe Gabcikovo, unser Tagesziel. Mit dem Fahrrad, auch mit dem Auto kann man von einer Seite auf die andere wechseln. Diese Querung wird auch ausgenützt, viele Slowaken fahren "Kraftwerkschaun", eigene grün gewandete Securities passen auf, dass nichts dem Kraftwerk Abträgliches passiert.

Weniger imposant ist der Blick auf die insgesamt acht Turbinen, die maximale Kapazität pro Turbine liegt bei 90 Megawatt, die Wassermenge pro Turbine schwankt zwischen 413 bis 636 Kubikmeter pro Sekunde. Eindeutig gruseliger ist der Blick in eine der beiden 275 Meter langen und 34 Meter breiten Schleusenkammern. Und wenn man das seltene Glück hat, dass auch ein Schiff die Staustufe passiert, kann man das Manöver beobachten: Schließen des hinteren Schleusentores, Füllen beziehungsweise Leeren der Schleusenkammer, Öffnen des vorderen Schleusentores.

Während die slowakischen Kraftwerksbetreiber stets betonen, dass das Kraftwerk die früher stets präsente Gefahr des Hochwassers für alle Zeiten beseitigt habe, folgt die Rechtsmittelbelehrung Teil zwei. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschied im schwelenden Konflikt zwischen den beiden Nachbarstaaten am 25. 9. 1997 wie folgt: Einerseits wurde Ungarn vertragsbrüchig, da es ab 1989 die Arbeit am Projekt Nagymaros einstellte ("...was not entitled to suspend and subsequently abandon the works"). Andererseits war auch nicht die Tschechoslowakei und an 1.1. 1993 die Slowakei berechtigt, "...to put that variant C into operation". Eine klassische Remis-Situation, die allerdings dadurch ein wenig an Bedeutung verliert, da die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes mit keinen Sanktionen verbunden sind.

Wir radeln ins zwei Kilometer entfernte Dorf Gabcikovo. Bis 1945 trug der Ort den ungarischen Namen "Bös", auch die Slowaken verwendeten die ungarische Bezeichnung. Für den nach dem zweiten Weltkrieg erfolgten Namenswechsel stand ein slowakischer Nationalheld Pate: Jan Gabcik war eine der beiden Attentäter, die in Prag am 17. Mai 1942 ihre Waffen auf den Henker von Prag, Reinhard Tristan Heydrich, richteten. Mit seiner letzten Kugel erschoss er sich in der Krypta der St. Cyrill-Kathedrale, um nicht in die Hände der Nazis zu fallen.

Wir übernachten in der einzigen Pension im Ort. Angeschlossen an die Pension ist ein Potraviny, ein Greißler, an den Greißler angeschlossen ist ein Hostinec mit einem gepflegten Gastgarten. Viele der Einheimischen kommen mit dem Fahrrad ins Wirtshaus, Lasten wie Baumaterial werden in einem Fahrradanhänger transportiert. "Früher hatte ich einen Skoda", erzählt ein Mann auf dem Nebentisch. "Aber es gibt keine Ersatzteile mehr. Und ein neues Westauto kann sich niemand leisten." Viele sitzen mit ihrer blauen Arbeitskluft im Wirtshaus, Deckspritzer auf Knien und Unterärmeln. "Sie arbeiten auf dem Feld, sie leben oft von den Sachen, die sie selber anbauen", erklärt unser Nachbar die Wichtigkeit der Selbstversorgung in Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit.

Am nächsten Morgen erhalten wir zum Frühstück zum Kaffee viel Gemüse und Brot. Die ersten Männer stehen schon an der Bar. Sie sprechen ungarisch und trinken slowakisches Bier.