Anlässlich seiner ersten 100 Tage im Amt stellt sich Joe Biden heute erstmals beiden Kongresskammern. Das Ziel seiner Rede ist klar: Der US-Präsident will seinen Neustart-Kurs konsolidieren - politisch wie in Sachen persönliche Beliebtheit.
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Um manche Dinge aus einer neuen und anderen Perspektive zu sehen, muss man manchmal sehr alt werden. Im konkreten Fall: 78 Jahre. In seinem über vier Jahrzehnte währenden Berufsleben in der US-Hauptstadt hat Joe Biden persönlich unzähligen Reden beigewohnt, im Rahmen derer sich die Führer des Landes dem Kongress stellten, um die Lage der Nation zu erläutern. Auch wenn das, was heute Abend um 21 Uhr Ortszeit (2 Uhr Früh MESZ) im Kapitol ansteht, nicht offiziell in die Kategorie "State of the Union" fällt, sondern als "Speech to a Joint Session of Congress" ausgewiesen wird, stellt diese Rede für Biden eine Premiere dar.
Bei früheren derartigen Anlässen saß er stets nur im Publikum. Als Senator von Delaware hörte er Richard Nixon, Jimmy Carter, Ronald Reagan, George H. Bush, Bill Clinton und George W. Bush über Für und Wider ihrer Politik raisonieren. Dann der erste Ortswechsel: Als Vizepräsident von Barack Obama durfte Biden acht Jahre lang oben auf der Kanzel neben dem Gastgeber, dem jeweiligen Mehrheitssprecher des Repräsentantenhauses, Platz nehmen und von dort stumm Fingerzeige, Luftküsse und -umarmungen verabreichen. Die Rolle des Hauptdarstellers füllt Biden an diesem Mittwoch, dem 99. Tag seiner Ende Jänner angetretenen Präsidentschaft, indes zum ersten Mal aus.
"Keine Zeit zu verlieren"
Seit Franklin Delano Roosevelt, dank dessen "New Deal" die USA ab 1933 die Große Depression hinter sich ließen, zählt die 100-Tage-Bilanz eines US-Präsidenten zum Inventar der innenpolitischen Temperaturmessung; sowohl auf Seiten der Handelnden wie auch bei jenen, die über sie berichten. Roosevelt mit seiner auf den Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes basierenden Wirtschafts- und Sozialpolitik gilt Biden nach eigenem Bekennen seit jeher als Vorbild. Wohl nicht nur, weil der Spross einer New Yorker Patrizierfamilie (Franklin D. Roosevelt war Schwiegerneffe von Teddy Roosevelt, Präsident von 1901 bis 1909) in seinen ersten knapp drei Monaten sage und schreibe 76 neue Gesetze durch den Kongress brachte - darunter für die damaligen USA geradezu revolutionäre wie die Festsetzung eines Mindestlohns und Regeln für den Aktienhandel -, sondern in diesem Zeitraum auch den Grundstein für seine zweimalige Wiederwahl legte.
Biden passt diese Formel nun dem 21. Jahrhundert an. Angesichts der wegen des Coronavirus stotternden US-Wirtschaft und des weltweiten Vormarsches anti-demokratischer Strömungen - siehe die Entwicklungen in China und Russland, aber auch in Myanmar sowie die erstarkenden Rechtspopulisten in traditionell verbündeten Ländern wie Großbritannien und Frankreich - befindet man sich laut seiner Analyse in einer ähnlichen Krise wie Anfang der 1930er Jahre und hat dementsprechend "keine Zeit zu verlieren".
Nach innen will der studierte Jurist nicht weniger als "einen Paradigmenwechsel" vollziehen, der die Verheerungen, die die neoliberalen Dogmen in den vergangenen 40 Jahren angerichtet haben, nicht nur abfedert, sondern nachhaltig demontiert. Sein Motto: mehr Staat, weniger privat. Und tatsächlich ist das Tempo, das seine Administration bisher vorgelegt hat, beachtlich. Ein 1,9 Billionen Dollar schweres Hilfspaket zur Ankurbelung der von der Pandemie gezeichneten Wirtschaft schaffte es trotz anfänglicher Widerstände vom rechten wie vom linken Flügel von Bidens eigener Partei - die Demokraten verfügen seit den Wahlen 2020 über eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus und liegen im Senat mit den Republikanern gleichauf - durch den Kongress.
Steuererhöhung für die Reichen
Auch sein Versprechen von 200 Millionen Corona-Impfungen innerhalb seiner ersten 100 Tage im Amt erfüllte sich noch vor der Deadline. Laut der Bundesgesundheitsagentur Center for Disease Control (CDC) werden derzeit rund drei Millionen Dosen pro Tag verabreicht. Das bizarre Problem, unter dem die USA indes nunmehr leiden, besteht in der mangelnden Impfbereitschaft vieler. Allen voran verweigern Millionen republikanischer Wähler den "Shot", der sie und ihre Mitbürger vor Covid-19 und seiner Weitergabe schützen soll.
Rassenunruhen, die angesichts der fragwürdigen Berufsauslegung mancher US-Polizisten schon unter Donald Trumps Vorgänger zur Tagesordnung gehörten, unter Letzterem aber - nicht zuletzt weil von ihm persönlich angefacht - ihren Höhepunkt erreichten und die eigentlich schon tot geglaubte "Black Lives Matter"-Bewegung zum sich quer durch alle Bevölkerungsschichten ziehenden Massenphänomen machten, bilden heute die Ausnahme von der Regel. Eine Beruhigung, die zweifellos auch dem Schuldspruch zu verdanken ist, der jüngst über den Polizisten Derek Chauvin verhängt wurde, nachdem dieser den Afroamerikaner George Floyd, wie die Geschworenen in Minneapolis feststellten, auf offener Straße ermordet hatte.
Kein Zweifel, dass Biden all das und noch mehr heute Abend ansprechen wird - ebenso wie das ambitionierte Ziel, bis 2050 all jene Schadstoffe auf null zu reduzieren, die den Klimawandel vorantreiben. Was wiederum mit dem nächsten großen vom Weißen Haus geplanten Wurf zusammenhängt: einem Gesetzespaket, das Billionen an staatlichen Ausgaben zur Erneuerung der teils arg veralteten Infrastruktur des Landes vorsieht. Auch dies ist eine direkte Anlehnung an den "New Deal" der 1930er Jahre, und bei der Finanzierung der Großprojekte sollen die Karten ebenfalls neu gemischt werden. Denn für zusätzliche Mittel soll nicht zuletzt eine massiven Steuererhöhung für die reichsten Bürger des Landes sorgen. So dürften die 0,3 Prozent der Bevölkerung, die pro Jahr mehr als eine Million Dollar verdienen, mit knapp 40 Prozent künftig wohl fast doppelt so viel Kapitalertragsteuer bezahlen müssen wie bisher.
Die Bürger sind zufrieden
Glaubt man den Umfragen, fährt der 46. Präsident der USA mit all dem bisher überraschend gut. So stößt die Arbeit seiner Administration bei - je nach Erhebung - 50 bis 60 Prozent der Befragten auf Zustimmung. Überraschend ist das insofern, als offener staatlicher Interventionismus per se von den US-Bürgern traditionell skeptisch gesehen wird, aber die Stimmung scheint sich zu drehen.
Nur eine Minderheit - die fast ausschließlich aus einstigen Trump-Wählern besteht - findet Bidens Politik falsch, das dafür aber so richtig. Sie stoßen sich allem voran an dem Migrantenstrom, der sich seit Anfang des Jahres über die Südgrenze der USA ergießt und die Kapazitäten der dortigen Behörden mittlerweile ausreizt. Die Migrationsfrage stellt für Biden, der zuletzt auch eine klare Antwort auf die Frage schuldig geblieben ist, wie viele offiziell als Flüchtlinge anerkannte Menschen unter ihm in die USA kommen dürfen (Trump hatte ihre Zahl auf den historischen Tiefstand von 15.000 reduziert), das derzeit einzige Problem dar, aus dem eine Krise entwachsen könnte.
Dessen ungeachtet scheint er entschlossen, einen Kardinalfehler, den die Demokraten im vergangenen Jahrzehnt machten, nicht zu wiederholen: die so end- wie de facto sinnlosen Bemühungen, sich mit xenophoben Botschaften an die weiße Bevölkerungsmehrheit anzubiedern. Eine angesichts der Ergebnisse der vergangenen drei Präsidentschaftswahlen - wenn diese allein im Sinne des weißen Amerikas ausgegangen wären, hätte Obama keine zweite Amtszeit erlebt, und Trump wäre locker wiedergewählt worden - späte Erkenntnis; aber trotzdem eine entscheidende, was die politische Zukunft der Demokraten wie jene der Republikaner angeht.