US-Verteidigungsminister Carters Kritik an der irakischen Armee sorgt für erhebliche Verstimmung in Bagdad. Die Militärs wollen nicht als Feiglinge dargestellt werden.
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Bagdad. Die irakische Regierung hat am Dienstag grünes Licht für den Beginn der militärischen Operation in der westlich von Bagdad gelegenen Provinz Anbar gegeben. An der geplanten Rückeroberung seien Armee, Freiwillige und bewaffnete Stämme beteiligt, sagte ein Regierungssprecher. Die vergangene Woche vom Islamischen Staat (IS) eroberte Provinzhauptstadt Ramadi erwähnte er dabei nicht namentlich.
Unerwähnt blieb auch die Kritik von US-Verteidigungsminister Ashton Carter vom Wochenende. Diese war in Bagdad wie ein Blitz eingeschlagen und sorgte für erhebliche Verstimmung. Der Amerikaner hatte der irakischen Armee mangelnden Kampfeswillen bescheinigt: "Die irakischen Truppen haben einfach keinen Willen zum Kampf gezeigt", erklärte Carter im Hinblick auf die Einnahme Ramadis. Hunderte Soldaten waren vor dem IS weggelaufen.
"Ich sah keine andere Möglichkeit als abzuhauen", sagt Abdelkadr (Name geändert) am Telefon. Der 22-jährige Sunnit und Soldat der irakischen Armee hält sich versteckt, denn Premier Haider al-Abadi hat angekündigt, dass alle, die abgehauen sind, vor Gericht gestellt würden. Doch Abdelkadr findet dies ungerecht. Nachdem die Kommandeure vom IS ermordet wurden, erhielten die Truppen keine Befehle mehr. Wem sollten sie folgen? Außerdem ging das Gerücht um, dass 10.000 IS-Kämpfer von Syrien aus auf Ramadi vorrückten. Sie seien etwa 3.000 gewesen, die Soldaten sahen deshalb keine Chance, sich dem Gegner mit Erfolg entgegenzustellen. Davon, dass ihnen angeblich die Munition ausgegangen sei, weiß Abdelkadr nichts. "Uns jetzt als Feiglinge zu bezeichnen ist nicht o.k."
Auch knapp ein Jahr nach der Ausrufung des Islamischen Staates funktioniert die Angst-und-Schrecken-Taktik der selbst ernannten Gotteskrieger weiterhin mit Erfolg. Dabei sind die Muster der Angriffswellen nahezu identisch. So wurden im Vorfeld des Angriffs auf Tikrit vergangenen Juni Massenhinrichtungen von Soldaten propagandistisch im Internet ausgeschlachtet. Von 1300 getöteten Rekruten auf einer Militärbasis außerhalb Tikrits war die Rede. Der IS brüstete sich mit der Tat, zeigte Fotos und Videos auf seinen einschlägigen Webseiten und versetzte die gesamte Armee in Panik. Mit dem Angriff auf Ramadi verhielt es sich ähnlich. Der IS propagierte, 185 Soldaten der Armee nach ihrer Gefangennahme hingerichtet zu haben. Die Massenhinrichtungen erfolgten, nachdem eine Militärbasis am Tharthar-See, 70 Kilometer von Ramadi entfernt, eingenommen wurde. Der Verlust eines Divisionskommandeurs und anderer hochrangiger Offiziere war ein herber Schlag für die Truppe. Wenige Tage später war Ramadi verloren.
USA steckten 25 Milliarden Dollar in Armee-Ausbildung
Dass der Zustand der irakischen Armee problematisch ist, dürfte für die Amerikaner indes nicht neu sein. Umso überraschender ist die Kritik aus Washington. Fast 25 Milliarden Dollar haben die Vereinigten Staaten für die Ausbildung der neuen irakischen Armee ausgegeben, nachdem US-Adminstrator Paul Bremer nach dem Einmarsch im Frühjahr 2003 die gesamten irakischen Sicherheitskräfte aufgelöst hatte und eine neue Armee gründete. Über eine Million Soldaten zählte diese beim Abzug der Amerikaner Ende 2011. Ein interner Pentagon-Bericht, der dieser Zeitung vorliegt, bescheinigte der Armee schon damals einen "bedenklichen Zustand". So sei die Ausrüstung etwa der Grenztruppen völlig unzulänglich. Zwar seien Sondereinheiten für den Anti-Terrorkampf ausgebildet worden, aber das Gros der Soldaten sei nur minimal trainiert. Als absoluten Schwachpunkt nennt der Bericht die Unfähigkeit der irakischen Armee, sich gegen äußere Feinde zu verteidigen. Es gebe so gut wie keine Luftabwehr, eine Luftwaffe sei praktisch nicht existent. Genau dies rächt sich jetzt im Kampf gegen den mit mordernsten Waffen ausgerüsteten IS.
Zusammen mit der Polizei waren es einmal 1,5 Millionen Männer und wenige Frauen, die auf der Lohnliste der Regierung standen. Schätzungen zufolge ist mittlerweile mehr als die Hälfte der Streitkräfte nicht mehr einsatzfähig. Bei einer kürzlich erfolgten Revision wurde festgestellt, dass alleine in der Provinz Anbar 53.000 Soldaten lediglich Karteileichencharakter aufweisen, ihren Lohn kassieren, aber keinen Dienst versehen.
Mit 1000 Dollar Durchschnittslohn im Monat gilt ein Mitglied der irakischen Streitkräfte oft als tragende Säule des Haushaltsbudgets. So hat in Bagdad fast jede Familie mindestens ein Mitglied in Polizei oder Armee. Wird dieses getötet, gibt es zwar eine Abfindung, die nach Dienstgrad variiert, aber kaum zur längerfristigen Ernährung der Familie reicht. Premier Abadi ist optimistisch, dass Ramadi in den nächsten Tagen zurückerobert wird. Abdelkadr aber wird mit Sicherheit nicht dabei sein.