Tausende Blindgänger trüben den ukrainischen Jubel über den Rückzug von Russlands Truppen aus Cherson.
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Die Ukrainer haben Cherson zurückerobert, allerdings bietet sich den vordringenden Einheiten dort ein Bild der Verwüstung. Die ohne Hast abziehenden Russen haben ganz offensichtlich das Fernsehzentrum zerstört und Funkmasten gesprengt. Zudem, so berichten ukrainische Medien, sind in der Stadt mit ehemals 290.000 Einwohnern Fernheizungsanlagen gesprengt worden. Am Freitag war Cherson komplett ohne Strom, auch das Internet ist ausgefallen. Stellenweise ist Panik ausgebrochen, es ist für die Behörden schwer, angesichts der Ausfälle die Menschen zu erreichen.
Schon in den Tagen zuvor sind mehrere Brücken über den Dnjepr gesprengt worden, damit ukrainische Einheiten nicht auf die Ostseite des Flusses übersetzen können. Die russischen Befehlshaber wollen den stellenweise mehrere hundert Meter breiten Fluss als Barriere nutzen.
Freitag am Morgen stürzte dann die Antoniwka-Brücke über den Dnjepr ein. Ob die Verbindung durch Beschuss zerstört oder gesprengt wurde, war nicht klar. Die Brücke war allerdings schon zuvor so beschädigt, dass sie von schweren Fahrzeugen nicht benutzt werden konnte.
Furcht vor einer "Stadt des Todes"
Auch die Cherson vorgelagerten Dörfer - 41 will die Ukraine zurückerobert haben - sind offenbar großflächig zerstört. Die ukrainische Staatsagentur Unian veröffentlichte Bilder, auf denen zerstörte Häuser, Müll und Landminen zu sehen sind.
Die ukrainische Seite äußerte vor der Rückeroberung die Befürchtung, dass Cherson in eine "Stadt des Todes" verwandelt werden könnte. Ein großes Problem stellen russische Landminen dar. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sollen 170.000 Quadratkilometer des Landes minenverseucht sein. Zum Vergleich: Ganz Österreich hat eine Fläche von knapp 84.000 Quadratkilometern. Die Angaben des ukrainischen Präsidenten können freilich nicht unabhängig überprüft werden. Selenskyj geht jedenfalls davon aus, dass die Räumung der Minen noch Jahrzehnte dauern wird. Dazu kommen tausende Blindgänger in der Erde und verlassene Munitionslager.
Im Jahr 2021 - noch vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine - sind weltweit mehr als 7.000 Zivilisten durch Landminen getötet worden, die gefährlichen Relikte detonieren oft erst viele Jahre nach Beendigung des bewaffneten Konfliktes. Häufig sind Kinder die Opfer.
Die russischen Truppen zogen am Freitag nicht nur aus Cherson ab, sie feuerten auch Raketen auf Mykolajiw, das rund 70 Kilometer nordwestlich von Cherson liegt. Ein Wohnhaus wurde zerstört, laut dem Gouverneur des Gebietes, Vitali Kim, seien sieben Tote und drei Verletzte zu beklagen. Präsident Selenskyj erklärte, der Angriff sei die "zynische Antwort des Terrorstaats" auf die ukrainischen Erfolge an der Front.
Nicht zum Binnenstaat geschrumpft
Mykolajiw, vor Kriegsbeginn eine Stadt mit rund einer halben Million Einwohnern, spielte eine entscheidende Rolle in den vergangenen Monaten. Nach den schnellen russischen Gebietsgewinnen im Süden zu Kriegsbeginn und der Eroberung Chersons sollte der Einmarsch in Mykolajiw erfolgen. Zeitweise war es von zwei Seiten von russischen Truppen belagert. Aber Mykolajiw ist nicht gefallen - und hat damit die Schwarzmeer-Metropole Odessa vor der möglichen Einnahme bewahrt.
Denn offensichtlicher Plan Russlands war, die bedeutende Hafenstadt von drei Seiten in die Zange zu nehmen: Aus dem Westen wären Soldaten über Transnistrien vorgestoßen, jenem Parastaat, der sich von der Republik Moldau abgespalten hat und mit russischer Hilfe am Leben erhalten wird. Aus dem Süden hätte die Schwarzmeer-Flotte angegriffen und aus dem Osten wären Einheiten über Mykolajiw nach Odessa und weiter bis in den äußersten südwestlichen Rand der Ukraine vorgestoßen, an die Grenze zu Moldau und dem EU- und Nato-Land Rumänien. "Ich fürchte, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht", sagte Odessas Bürgermeister Gennadij Truchanow im Mai im Interview mit der "Wiener Zeitung" angesichts der Lage. Hätte der russische Plan funktioniert, wäre die Ukraine vom Schwarzen Meer abgetrennt gewesen und zum Binnenstaat geschrumpft.
Nun ist Russland weit entfernt vom Zugriff auf die strategische Lage Odessas, dessen Wirtschaftskraft und die symbolische Wirkung der Einnahme einer Metropole, dessen Bürger mehrheitlich russisch sprechen - aber fest zur Ukraine stehen. Vielmehr wähnen sich die Ukrainer in der Offensive: Sie könnten vom zurückeroberten Cherson aus mithilfe von Langstreckenartillerie den Norden der bereits 2014 von Russland annektierte Krim angreifen. Die Ukraine hat niemals ihren Anspruch auf die Halbinsel aufgegeben. Umgekehrt ist die Krim für Russland nicht nur aufgrund der Stationierung ihrer Schwarzmeerflotte von größter Bedeutung. Die Annexion der Halbinsel wurde in Russland einst euphorisch begrüßt. Wesentlich weniger emotionale Verbindung pflegen viele Russen zu den Gebieten in Donezk und Luhansk sowie den seit Kriegsbeginn im Februar hinzugekommenen Territorien. Die Krim war daher auch stets ein politisches Prestigeobjekt für Präsident Wladimir Putin. Mehr als drei Milliarden Euro kostete allein die im Jahr 2018 eröffnete Kertschbrücke, welche die Krim mit Russland verbindet.
"Wagner"-Söldner noch stärker involviert
Derartige Investitionen sind in Donezk und Luhansk nicht getätigt worden. Was jedoch nicht heißt, dass sich Putin eher von diesen Territorien trennen würde. Bereits Mitte Oktober kündigte Jewgeni Prigoschin an, dass seine Söldnertruppe "Wagner" eine 200 Kilometer lange Verteidigungslinie für Luhansk aufbauen werde. Auf damals veröffentlichten Bildern war ein Abschnitt mit neu errichteten Panzerabwehrsystemen und Gräben südöstlich der Stadt Kreminna in der Region Luhansk zu sehen.
Weitere "Wagner-Linien" sollen in Belgorod und Kursk gebildet werden, wie am Freitag bekannt wurde. Dabei handelt es sich aber nicht um bereits eroberte Gebiete auf ukrainischem Territorium, sondern russische Städte. Belgorod liegt knapp 80 Kilometer nordöstlich von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine vor Kriegsausbruch. Nach russischen Angeben wurden Belgorod und Kursk mehrfach getroffen. Die "Wagner"-Söldner sollen nun Milizionäre ausbilden und Befestigungsanlagen errichten.