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Aufarbeitung für die Versöhnung

Von Simon Rosner

Politik

Die Polarisierung in der Gesellschaft nach der Pandemie ist evident. Die Rufe nach einer Evaluierung dieser Zeit werden lauter, doch befriedigende Antworten sind gar nicht so einfach zu finden. Und das ist eine Gefahr.


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Noch ist die Pandemie nicht ganz vorbei. Was sicher bleibt, ist das Virus, das auch weiterhin zu Erkrankungswellen führen wird und geschwächte Personen bedroht. Zum Beispiel derzeit wieder. Was auch zu bleiben droht, ist eine gewisse gesellschaftliche Polarisierung entlang des Spannungsverhältnisses zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten.

In der öffentlichen Rezeption mag diese Polarisierung etwas überbetont sein, wegzudiskutieren ist sie nicht. Eine Folge dieser Entwicklung ist ein Vertrauensverlust gegenüber der Regierung und generell des politischen Systems, wobei die Fundamentalkritik an den Corona-Regeln nur die eine Seite abbildet. Vor allem seit dem Vorjahr mit dem schrittweisen Abbau der Covid-Regeln kam von anderer Seite der Vorwurf auf, die Regierung komme ihrer Schutzfunktion nicht mehr nach.

Die Politik steht dieser Entwicklung sorgenvoll, aber auch ratlos gegenüber. Bei der niederösterreichischen Landtagswahl führte die ÖVP ihr schlechtes Abschneiden zumindest teilweise auf Verwerfungen zurück, die die letztlich gescheiterte Impfpflicht zurückgelassen hatte. Daten, die der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik dazu ausgewertet hat, stützen diese These.

Schwierige Analyse

Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grünen) fragte sich Ende Jänner in seinem Blog, wie "Versöhnung gelingen kann". Und weiter: "Wir brauchen dringend ein Ventil, durch das die aufgeheizte Luft aus dem Druckkochtopf, in den die Gesellschaft sich zu verwandeln droht, entweichen kann." Nicht nur Rauch, auch sein Vorgänger Rudolf Anschober, Zeitungen sowie maßnahmenkritische Initiativen forderten zuletzt Aufarbeitung. Auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) kündigte eine Evaluierung an.

Es stellt sich aber die Frage, was genau untersucht und aufgearbeitet werden soll. Dekliniert man mögliche Optionen durch, wird klar: So verständlich der Ruf nach Aufarbeitung dieser "demokratischen Zumutung" (Angela Merkel) ist, so schwierig könnte sich diese Analyse gestalten.

Die FPÖ hat bereits einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert, jedoch nicht zu den Maßnahmen, sondern zu Beschaffungsvorgängen bei Tests und Masken sowie zu einer mutmaßlichen Einflussnahme der Regierung in die mediale Berichterstattung. Gemeinsam mit der SPÖ hatten die Blauen im Herbst auch eine Prüfung der Cofag verlangt. Die Neos wollten bisher keine parlamentarische Untersuchung.

Ein U-Ausschuss fokussiert immer auf Missstände im Vollzug und untersucht die politische Verantwortung. Man könnte also prüfen, wie die Entscheidungen zustande gekommen sind. Doch für die Bewertung dieser Entscheidungen kann nicht der heutige Wissensstand herangezogen werden. Es handelt sich zwingend um eine Betrachtung ex ante, also mit dem damaligen Wissen. Dieser Zugang war zum Beispiel auch von der Ischgl-Kommission gewählt worden, um mögliches Fehlverhalten der Behörden in den ersten Pandemiewochen in dem Tiroler Skiort zu untersuchen. Das heißt: Für eine qualitative Beurteilung der Maßnahmen, was funktioniert hat und was nicht, eignet sich ein U-Ausschuss nicht.

Ähnlich ist es bei der rechtlichen Aufarbeitung der Maßnahmen, die zu einem Gutteil bereits stattgefunden hat - ebenfalls ex ante. "Der VfGH hat geprüft, ob die Entscheidungen mit dem damaligen Wissen und unter Berücksichtigung der notwendigen Eile im verfassungsrechtlichen Rahmen waren", sagt der auf Medizinrecht spezialisierte Verfassungsrechtler Karl Stöger.

Ex ante oder ex post?

Eine Maßnahme kann zu einem späteren Zeitpunkt, mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und einer anderen epidemiologischen Lage, anders bewertet werden. "Irren ist verfassungsrechtlich nicht verboten", so Stöger von der Uni Wien. Fast 1.000 Anträge sind bisher beim VfGH eingelangt, der Großteil ist schon abgearbeitet. In rund 15 Prozent der Fälle waren die Antragsteller erfolgreich, die allermeisten Maßnahmen wurden vom VfGH bestätigt. Das bedeutet nicht, dass das Höchstgericht mit heutigem Wissensstand zu denselben Erkenntnissen gelangen würde.

Liest man ein Buch von vorne, kann man Entscheidungsfindungen bewerten, liest man es von hinten, lässt sich die Qualität von Entscheidungen beurteilen. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Um für die Zukunft zu lernen, ist es wohl zielführender, mit dem heutigen Wissensstand zu analysieren- auch die Rechtsfragen. Eine erneute Verfassungsprüfung der Beschränkungen mit heutigem Wissen ergäbe aber wenig Sinn, wohl aber kann eine solche Ex-post-Beurteilung Aufschlüsse darüber geben, wie man zukünftig besser agieren kann. Wo gab es rechtliche Hindernisse in der Infektionsprävention? Wo haben juristische Grundlagen für Reibungsverluste gesorgt? Stöger nennt als Beispiel den österreichischen Föderalismus.

Tatsächlich hatte es in der Pandemie stete Konflikte zwischen Bund und Ländern geben, die viele Ressourcen banden. Sie trugen auch dazu bei, dass zwei Gesundheitsminister zurücktraten.

Der erste, Rudolf Anschober, hatte unlängst im Interview mit der "Kleinen Zeitung" eine Aufarbeitung unter Einbindung der Wissenschaft gefordert. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland hatten amtierende Politiker zuletzt bekundet, dass die Schulschließungen ein Fehler waren. Aber ist das so sicher? Unstrittig ist, dass es durch Schulschließungen weniger Infektionen gab. Weniger Kontakt bedeutet weniger Ansteckungen. Das ist noch trivial. Das ist aber keine quantitative Aussage, von der die Gesamtbewertung aber abhängt. In welchem Verhältnis stehen Nutzen und negative Nebenwirkungen?

Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen kaum beweisbar

Die Hoffnung, dass die Wissenschaft hier klare Antworten wird liefern können, enttäuscht der Komplexitätsforscher Peter Klimek. Er hatte mit seinem Team für die erste Welle im Frühling 2020 die Wirksamkeit der verschiedenen nicht-pharmazeutischen Maßnahmen berechnet. Die prominent publizierte Studie hatte auch damals ihre Limitationen, in späteren Phasen der Pandemie boten jedoch die unterschiedliche epidemiologische Entwicklung, unterschiedliche Impffortschritte und unterschiedliche Regeln keine geeignete Basis mehr für eine derartige Auswertung der einzelnen Maßnahmen, von der Schulschließung über die Maskenpflicht bis zur Absperrung des Schankbereichs in Lokalen. "Es ist ein Riesenkonvolut an Maßnahmen und ein hochdynamisches Geschehen", sagt Klimek. Dazu kommt der Mensch, dessen Verhalten ein weiterer dynamischer Faktor sei, sagt der Forscher von der MedUni Wien.

In Schweden, wo zwar ebenso Beschränkungen in Kraft waren, nie jedoch ein Lockdown, deuten Mobilitätsdaten daraufhin, dass sich die Menschen in hohem Ausmaß an die Empfehlung der Experten hielten, ihre Kontakte zu reduzieren. In anderen Ländern nutzten sich selbst behördliche Verordnungen ab. Ein Beispiel aus Österreich: Als im Herbst 2021 der umstrittene "Lockdown für Ungeimpfte" verordnet wurde, später übrigens vom VfGH bestätigt, zeigten Befragungen und Mobilitätsdaten, dass sich die Kontakthäufigkeit bei Ungeimpften weniger reduzierte als bei Geimpften. Die Maßnahme hat also schlicht nicht funktioniert. Daraus lässt sich freilich nicht ableiten, dass Lockdowns grundsätzlich nicht wirksam sind. Im Frühjahr 2020 war dieser sogar nachweislich besonders effektiv.

Bürgerräte als Ausweg für Aufklärung

Was bedeutet das für die Aufarbeitung, wenn die Wissenschaft nicht die qualitativen Erkenntnisse liefern kann, die zu einer echten Evaluierung der Maßnahmen notwendig sind? Die Gefahr ist groß, dass erst recht wieder viel Raum für Interpretationen und Meinung bleibt und wenig von Fakten abgedeckt werden kann. Im schlimmsten Fall könnte sich die Polarisierung weiter vertiefen. Auch das muss bedacht werden. Der Deutungskampf in der Pandemie wurde auch bisher mit Studien geführt. Bei derzeit 327.000 Arbeiten ist für jeden was dabei.

Rauch schreibt: "Symposien, politische Debatten, sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte und parlamentarische Gremien sind nicht genug. Wir müssen uns vor allem Formate überlegen, denen sich auch jene Menschen annähern können, die in den letzten beiden Jahren auf maximale Distanz gegangen sind." Ein interdisziplinäres Team von Forscherinnen, unter anderem der Uni Wien und des IHS, schlug Fokusgruppen und Bürgerräte vor, wo gemeinsam und öffentlich Aufarbeitung betrieben wird. Der Dialog steht im Vordergrund.

Das Papier stammt vom Juli 2022, aufgegriffen wurde die Idee bisher nicht. In der Arbeit heißt es: "Polarisierung verschlechtert nicht nur das Wohlbefinden von Individuen, sondern sie stellt auch eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Demokratie dar." Der Politik wird das immer klarer. Der Ruf nach Aufarbeitung ist nachvollziehbar, doch zuerst müssen Grundsatzfragen geklärt werden. Wie? Was? Warum? Sonst droht die Aufarbeitung zu scheitern.