Der Disput zwischen Präsident Selenskyj und Kiews Bürgermeister Klitschko wird innenpolitische Folgen haben.
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Im Angesicht russischer Raketen auf zivile Ziele in der Ukraine und bitterkalter Wintertagen nehmen die "Orte der Unbezwingbarkeit" zentrale Bedeutung für das Land ein. Mit diesem Begriff werden Wärmestuben bezeichnet, die bei Angriffen gegen die Energieinfrastruktur die Bürger mit Wärme, Strom und Internet versorgen können. Vergangene Woche verkündete Präsident Wolodymyr Selenskyj die erfolgreiche Vorbereitung von rund 4.000 Wärmestuben. Unmittelbar darauf folgte der erneute Massenbeschuss, diesmal mit rund 70 Raketen, der für einen größeren Blackout sorgte. Teile der Hauptstadt Kiew blieben für mehr als 30 Stunden ohne Strom.
Die Vorbereitung von so vielen Wärmestuben - im Endeffekt sollen es 17.000 im ganzen Land werden - ist eine Mammutaufgabe. Es müssen genügend Generatoren und Starlink-Terminals, dank denen die Bürger Internetempfang haben, eingekauft und verteilt werden. Das kann nicht von heute auf morgen passieren. Vorprogrammiert sind auch Probleme aufgrund des russischen Beschusses. Dennoch sei die Hauptstadt nach Ansicht des Selenskyj-Büros schlechter als 80 Prozent der ukrainischen Städte vorbereitet gewesen. "Die Situation um die Kiewer ,Orte der Unbezwingbarkeit‘ wird niemandem verziehen. Vom Bürgermeister erwarte ich gute Arbeit", betonte der Präsident in einer Ansprache. Nur die vom Katastrophenschutz und von der ukrainischen Bahn vorbereiteten Wärmestuben hätten gut funktioniert.
Entmachtete Oligarchen
Unrecht hatte Selenskyj nicht: In Verwaltungsgebäuden oder Schulen, für die die Stadt Kiew zuständig ist, fehlten oft Generatoren. Viele blieben daher gänzlich geschlossen. "Ich möchte mich gerade in der jetzigen Situation nicht in politische Schlachten einlassen", konterte Bürgermeister Vitali Klitschko. "Das ist aktuell sinnlos. Ich habe viel in der Stadt zu tun", erklärte der 51-Jährige.
Es ist das erste Mal seit Beginn der russischen Invasion, dass ein Konflikt aus dem politischen Vorkriegsleben nach außen sichtbar wird. Trügerisch ist dabei das Bild, wonach sich die früheren Eliten nach dem russischen Angriff am 24. Februar um den Präsidenten versammelt hätten. Vielmehr hat sich Selenskyj in den ersten Kriegstagen so stark gezeigt, dass er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen musste, ohne Kritik befürchten zu müssen. So wurde das Angebot Petro Poroschenkos, des politischen Erzrivalen und Vorgänger Selenskyjs, der Führung des Landes in Kriegszeiten zu helfen, kühl abgelehnt.
Der große Konflikt mit Rinat Achmetow, dem reichsten Mann des Landes, hat von sich alleine erledigt: Achmetow hat durch den Krieg viel Vermögen verloren. Ihm gehörte zum Beispiel das Asow-Stahlwerk in Mariupol. Dass er als größter privater Spender der ukrainischen Armee gilt, hat also auch praktische Gründe.
Klitschko nur Nummer zwei
Ein weiterer Oligarch, Ihor Kolomojskyj, mit dessen medialer Hilfe Selenskyj 2019 an die Macht gekommen war, wurde vermutlich ausgebürgert. Kolomojskyj schweigt dazu, aufgrund von US-Ermittlungen wegen vermeintlicher Geldwäsche könnte er aber jederzeit ausgeliefert werden.
Die öffentliche Auseinandersetzung mit Klitschko, der Poroschenko unterstützte, hatte begonnen als Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" 2019 die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl holte. Zum einen nervte es das Präsidententeam, dass ein politischer Gegner in der Hauptstadt an der Macht ist. Zum anderen gilt Klitschkos Bilanz als mager. Er hat für öffentlichkeitswirksame Projekte wie den Bau einer touristischen Fußgängerbrücke gesorgt. Die Situation bei den öffentlichen Verkehrsmitteln verschlechtere sich jedoch, keine einzige U-Bahn-Station wurde seit seinem Amtsantritt 2014 eröffnet. Und die Bebauung Kiews unter Klitschko wirkt chaotisch.
Daher gab es immer wieder Aufrufe, Klitschko zu entmachten. Der Bürgermeister von Kiew wird zwar gewählt, doch über mehr Befugnisse verfügt der Chef der Stadtverwaltung, der vom Präsidenten ernannt wird. Meist ist das die gleiche Person, doch Selenskyj hätte das Recht, jemand anderen zu ernennen. Dazu ist es bisher nicht gekommen. Solange das Kriegsrecht gilt, ist Klitschko tatsächlich nicht die Nummer eins in Kiew. Es gibt eine Militärverwaltung, die von einem General angeführt wird. Klitschko ist sein Stellvertreter für zivile Angelegenheiten.
Zweifellos hat Klitschko immer noch Einfluss. Trotzdem bleibt es unklar, wer für das Wärmestuben-Problem Verantwortung trägt. Es könnte durchaus sein, dass das Präsidentenbüro die Gelegenheit nutzt, um nicht zuletzt eigene Versäumnisse zu vertuschen und gleichzeitig gegen den politischen Gegner zu sticheln. Dabei ist Klitschko für Selenskyj auf nationaler Ebene keine Konkurrenz. Zwar hat der frühere Box-Weltmeister sicher Präsidentschaftsambitionen, doch realistisch sind diese nicht.
Beliebter Oberbefehlshaber
Selenskyj wird wiederum von Anhängern von Ex-Präsident Poroschenko für die unzureichende Vorbereitung auf den russischen Angriff leise kritisiert. In dessen Lager wird versucht, alle Erfolge dem beliebten Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj - und nicht Selenskyj - zuzuschreiben.
Auf den Krieg wird auf jeden Fall aber eine politische Zeitenwende in der Ukraine folgen. Politiker der alten Garde wie Poroschenko wirken aus der Zeit gefallen. Seine patriotische Nische wird wohl von Neulingen wie Ex-Komiker Serhij Prytula übernommen werden, der mit großen Wohltätigkeitsaktionen zugunsten der Armee an innenpolitischer Bedeutung gewonnen hat. Im politischen Kiew ist bereits jetzt klar: Prytula, General Saluschnyj oder einige früher landesweit unbekannte, nun erfolgreiche Gouverneure werden in Zukunft mit Präsident Selenskyj konkurrieren - und nicht die derzeitige Opposition im Parlament.