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Aufbruch in den Wohlstand

Von Olaf Sundström

Reflexionen
Maskenbildner bereiten künftige Eheleute auf die unerlässliche Fotosession vor.
© © Sundström

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Der schönste Tag im Leben soll etwas ganz Besonderes werden. Darin ist sich Huong wohl mit allen Bräuten weltweit einig. "An tiec dac biet" - eine ganz besondere Feier - möge es sein, sagt die 23-Jährige aus Hanoi. Und damit alles so wird, wie es sich die Bankkauffrau wünscht, hat sie sich extra "die gute Hose angezogen" - aus feinstem Stoff und als Teil der vietnamesischen Nationaltracht ao dai. Das landestypische, hoch geschlitzte Kleid offenbart zwischen Hosenbund und knielangem Oberteil Nuancen von Haut.

Nach Jahrzehnten, in denen blaue und braune Anzuggarnituren den öffentlichen Auftritt der Menschen des Arbeiter- und Bauernstaates prägten, staunen heute allenfalls noch die Bäuerinnen aus dem Umland von Hanoi über solcherlei Eleganz. "Schick, schick!", ruft die mit schweren Obstkörben beladene Marktfrau Thi. Bei ihr kann man aus breitmaschigen Drahtkörben Orangen und Bananen kaufen. Die geschäftstüchtige Marktbeschickerin riskiert einen Blick auf die divenhafte Braut. Mit der einen Hand lenkt sie dann langsam ihr Fahrrad in den Betrieb aus Millionen von Mopeds, mit der anderen drückt sie ein Mobiltelefon ans Ohr - und schreit gegen den Lärm um sich herum an.

Europa als Vorbild

Wer in Hanoi etwas auf sich hält, inszeniert sein Glück im Schoß der altehrwürdigen Kolonialpracht - und auf besondere Weise: Zwischen Opernhaus und malerischen Seenlandschaften staffieren professionelle Hochzeitsstudios die Paare nach mitteleuropäischem Vorbild aus. Kamerateams folgen den künftigen Eheleuten, manchmal sogar Beleuchter, Maskenbildner oder ganze Filmteams. Die Kameras klicken, Männer im Frack lächeln, das Wohlergehen wird schon vor der eigentlichen Trauung abgebildet. Die Vorbereitungen für diesen Schaulauf von tatsächlichem und vermeintlichem Reichtum starten bereits Wochen vor der Eheschließung. Zwischen 120 und mehreren Tausend Euro kann die multimediale Begleitung einer Hochzeitsfeier kosten, bei der nach Belieben auch prächtig ausstaffierte Luxusautos hinzu gemietet werden.

Die Sozialistische Republik Viet- nam erhebt Einfuhrzölle von 250 Prozent auf die im Ausland produzierten Wagen, berichtet ein Händler. Da schnellen die Preise für Limousinen zum Beispiel aus süddeutscher Produktion mitunter auf einen siebenstelligen Euro-Betrag in die Höhe. Die prestigeträchtigen Fahrzeuge sind dennoch begehrt - und mit ihnen scheint sich der dazugehörige westliche Lebensstil auszubreiten.

Die wachsenden Hochhaus-Silhouetten der Großstädte haben ihre Vorbilder offenkundig in Tokio, London oder New York. Büro- und Wohn-Tower sprießen überall wie Pilze aus dem Boden. In der Hauptstadt haben sich findige Investoren längst die schönsten Grundstücke für weitere Vorhaben gesichert. Sie entstehen in den früher von Reisfeldern durchsetzten Vororten.

Da war die Gebietsreform von 2008 nur noch ein weiterer Schritt, um die Stadt zu einer Megametropole zu machen. Umliegende Regionen wurden der Kapitale zugeschlagen und gehören nunmehr zum Großraum Hanoi - der Fläche nach angeblich die größte Hauptstadt der Welt.

Welche Superlative auch immer für das moderne Vietnam als Maßstab gelten: Die dort beschäftigten Menschen, wie die Bankkauffrau Huong, verleben einen neu erwirtschafteten Reichtum. Exklusive Wohnanlagen bieten der neuen Generation von Vietnamesen Platz und werden zu wahren Refugien mit privaten Gärten ausgestaltet. Großprojekte wie diese tragen zum Wirtschaftswachstum von zuletzt sechs Prozent bei.

Zeit des Aufschwungs

Die Bilanz, die in der von Finanzsorgen gebeutelten Europäischen Union ein Grund zum Feiern wäre, stößt in dem südostasiatischen Land jedoch auf Enttäuschung: "Sechs Prozent, das ist zu wenig! Neun müssten es sein", klagt etwa der Sprachschulenbesitzer Chieu. Der private Unternehmer und seine rund 240 angestellten Lehrkräfte unterrichten Englisch in der südlichen Wirtschaftsmetropole Ho Chi Minh-Stadt, dem früheren Saigon.

Dort stieg der Bedarf an fachkundigem Personal schon in den 1990er-Jahren. Nun drücken Teilnehmer aller Altersgruppen und mit den unterschiedlichsten inhaltlichen Schwerpunkten fast rund um die Uhr in zwei Filialen der "Learning School" die Schulbank. Und obwohl alle Kurse gut besucht sind, bereitet das "schwache" Wirtschaftswachstum Sorge - wie auch die Inflationsrate von rund 18 Prozent. "Das ist zu hoch", meinen neben Chieu weitere Geschäftsleute und sehen sich nach vermeintlich sicheren Investitionsprojekten wie Immobilien um.

Inflationsrate hin oder her - der Wandel in dem Land scheint für den auswärtigen Betrachter auch in wirtschaftlich "ungünstigen" Zeiten frappierend. Während prestigeträchtige Bauprojekte vorangetrieben werden, fallen viele der kleinen Geschäfte und Suppenküchen der Entwicklung zum Opfer. Geschäftsleute wie Chieu verzichten inzwischen beim Essen auf Stäbchen, sondern bedienen sich eines Löffels. "Das geht schneller", schmunzelt Chieu. "Denn Zeit ist knapp und teuer!"

Dass dies die Maxime der neuen Generation ist, zeigen auch die Neuerungen in der Altstadt Hanois. Seit ihrer Gründung vor 1000 Jahren waren ihre 36 Gassen traditionell den Zünften der Handwerker und den Kaufleuten vorbehalten. Gewerbe wie Korbflechter oder Töpfer sind dort heute fast verschwunden.

Wo noch vor 15 Jahren Frauen für ein paar Cent heißen Tee aus blechernen Thermoskannen in Wassergläser ausschenkten und Zigaretten einzeln an die auf winzigen Holzschemeln kauernden Gäste verkauften, stehen heute Fastfood-Restaurants wie etwa der einheimischen Anbieter Lotteria.

Hier werden die inzwischen beliebten Hamburger oder frittierte Hühnerteile verkauft. In den neuen klimatisierten Filialen kann das meist vietnamesische Publikum live die letzten Börsenmeldungen über Flachbildschirme an den Wänden verfolgen. Junge Paare füttern ihren properen Nachwuchs mit Pommes Frites, andere blicken beim Imbiss auf ihre Smart-Phones. Über die handlichen Telefone mit Internetzugang werden E-Mails verschickt und virtuelle Freundschaften gepflegt. Die dazu benötigten drahtlosen Verbindungen gibt es nahezu überall. Und kostenlos.

Preise für Reiche

Ob in Hotels, Bars oder an den Flughäfen: Die Blicke vieler Vietnamesen sind auf die kleinen flimmernden Bildschirme in ihren Händen gerichtet. Kein Wunder, dass bei so viel ökonomischer Beweglichkeit sich auch die Mieten westlichen Maßstäben annähern. Das hat dramatische Folgen für die traditionellen Stadtlandschaften. Denn nur noch zahlungskräftige Anbieter können die teuren Räume finanzieren. Ob in Hanoi oder Ho Chi Minh-Stadt: Die teuersten italienischen und französischen Modedesigner sind längst da.

Mit dem Wirtschaftsboom verschwanden hingegen auch die meisten Bettler aus den Straßen. Lebten vor zwei Dekaden noch fast 70 Prozent der Menschen in Vietnam von weniger als einem US-Dollar am Tag, so sank die Zahl der Menschen in absoluter Armut nach UN-Angaben auf heute etwa 21 Prozent. "Arbeitskräfte werden gebraucht", erklären Fachleute wie die Bankkauffrau Huong diese Entwicklung seit der Liberalisierung doi moi 1986. "Die Leute können sich wieder mehr leisten." Und sie tun dies - zum Beispiel mit opulenten Hochzeitsfeiern oder privaten Reisen.

Kaum etwas demonstriert die neu gewonnen finanziellen Freiheiten eindrucksvoller, als die rasant wachsende Mobilität der Bevölkerung. Allein zwischen Hanoi und Ho Chi Minh-Stadt verkehren täglich bis zu 33 Flüge. Auch Flüge zu beliebten Ferienorten wie der Insel Phu Quoc oder in das Seebad Nha Trang finden in immer kürzeren Intervallen statt. An Bord sitzen längst nicht mehr nur die jährlich 5,5 Millionen ausländischen Touristen. Immer mehr Maschinen starten mit einheimischen Passagieren - zunehmend auch wieder in die Provinz.

Bisweilen reaktivieren die Behörden alte Stützpunkte der US-amerikanischen Luftwaffe aus dem Vietnamkrieg, um dem steigenden Bedarf an Fluglinien zu entsprechen, etwa ins zentralvietnamesische Chu Lai. Nur 48 Kilometer entfernt davon richteten amerikanische GIs im März 1968 das Massaker von My Lai an. Eine wenig besuchte Skulptur in einem Museumspark aus Häuserruinen abseits der Hauptstraße erinnert heute an die 503 zivilen Todesopfer.

Skateboard und Grafitti

Die Gräueltaten von einst scheinen für Minh und Bao heute Lichtjahre entfernt zu sein. Von Einzelheiten des Krieges und seiner Folgen wollen die beiden 18-jährigen Skateboard-Fahrer nichts wissen. Sie geben ihre Ersparnisse in der Freizeit lieber für Graffiti-Bilder in "Saigon" aus, (wie sie ihre Heimatstadt nennen), die mit Sprayfarben an immer mehr Fassaden hinterlassen werden. Autolacke in Sprühdosen sind teuer - und die Armut kann sehr groß nicht mehr sein, wenn für solche Straßenkunst-Projekte nach US-amerikanischem Vorbild Geld übrig ist.

Minh zieht seinen Hosenbund mit Nietengürtel hoch und murmelt: "Der Krieg damals - das war verrückt." Nur wenige Schritte hinter ihm erhebt sich jener Panzer der nordvietnamesischen Armee auf einem Sockel, der Ende April 1975 das Tor zum damaligen Präsidentenpalast der südlichen Republik Vietnam zertrümmerte - und damit symbolisch den Krieg der beiden Landesteile beendete. "Ach, dieses Gerede vom Krieg", sagt Bao. "Machen wir doch lieber weiter", und blickt den Nuancen von Haut hinterher, die eine junge Vietnamesin im ao dai im Vorübergehen zeigt.

Olaf Sundström lebt als Journalist in Hamburg und arbeitet für verschiedene Zeitungen. Vor allem schreibt er Reisereportagen, insbesondere aus Asien.