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Aufbruch in die Ungewissheit

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Investoren wetten in großem Stil darauf, dass Premier Renzi mit dem Verfassungsreferendum scheitert.


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Rom. An das Ende der Welt will Yoram Gutgeld nicht so recht glauben. Der Wirtschaftsberater von Ministerpräsident Matteo Renzi streift sich die Ärmel hoch. Vielleicht sind die aufregenden Monate im Schlepptau des Regierungschefs schon in ein paar Tagen zu Ende. Wenn die Italiener am 4. Dezember gegen die Verfassungsreform der Regierung stimmen sollten, könnte Renzi zum Rücktritt gezwungen sein. Auch Gutgeld wäre seinen Job dann wohl los. Die zuletzt veröffentlichen Umfragen prognostizierten einen Sieg der Reformgegner.

Während in Rom Untergangsszenarien durchgespielt werden, gibt sich Renzis Berater gelassen. "Es ist ganz normal, dass eine Phase der Unsicherheit die Märkte nervös macht", sagt Gutgeld. Für den Fall der Ablehnung der Reform bekommen die Italiener dieser Tage täglich neue Schreckensbilder vorgesetzt: eine Regierungs- und Finanzkrise der drittgrößten EU-Volkswirtschaft, kollabierende Banken, ein drohender Austritt aus dem Euro nach Neuwahlen.

Mailänder Börsechef warnt vor "kolossalen Short-Positionen"

Ausländische Anleger haben offenbar riesige Wetten auf einen Kurssturz der dortigen Börse platziert. "Es gibt kolossale Short-Positionen aus den USA und anderen Staaten, in denen große Anleger beheimatet sind", sagte Raffaele Jerusalmi, Chef der Mailänder Börse, am Dienstag. Scheitert Renzi, könnten vor allem Finanzwerte in Kursturbulenzen stürzen, weil es den Banken schwerer fallen werde, dringend benötigtes frisches Kapital einzusammeln. Andere Experten verweisen darauf, dass die italienischen Wertpapiere in den vergangenen Monaten bereits kräftig verloren haben. Daher sei die Gefahr weiterer größerer Rückschläge eher gering. Der weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock deckt sich eigenen Angaben zufolge sogar mit Aktien europäischer Banken und anderer Finanztitel ein.

Zinssatz für Staatsanleiheauf Eineinhalb-Jahres-Hoch

Der Leitindex der Mailänder Börse hat seit Jahresbeginn rund 25 Prozent eingebüßt - etwa vier Mal so viel wie der EuroStoxx50. Am Dienstag schlugen Schnäppchenjäger zu, insbesondere bei Banktiteln. Bei Anleihen trieb der Ausverkauf italienischer Bonds die Rendite der zehnjährigen Titel zeitweise auf ein Eineinhalb-Jahres-Hoch von 2,228 Prozent. Am Dienstag lag der Zinssatz bei 1,958 Prozent - jener deutscher Bundesanleihen bei 0,397 Prozent. "Ich sehe keine sofortigen Probleme", kalmiert Renzis Berater Gutgeld für den Fall eines Neins am Sonntag. "Italien würde schlicht Zeit verlieren."

Welche Wirkung der Ausgang der Abstimmung auf die internationalen Finanzmärkte hat, darüber wird nur wenige Tage nach dem Referendum auch in Frankfurt mitentschieden. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), gibt nach der Abstimmung in Italien bekannt, ob der massenhafte Ankauf von Staatsanleihen über März 2017 hinaus fortgeführt wird. In Rom hofft man auf eine Fortführung des sogenannten Quantitative Easing. Die klammen Staatsfinanzen bekämen so weiterhin frische Luft. Laut Reuters dürfte die EZB bei einem negativen Referendumsausgang umgehend als Krisenfeuerwehr agieren und einen Anstieg der italienischen Anleihen-Renditen eindämmen.

Ein weiterer wackeliger Baustein im von jahrelanger Rezession angeschlagenen italienischen Finanz- und Wirtschaftssystem ist das Schicksal der Krisenbank Monte dei Paschi aus Siena (MPS). Die Großbank hatte beim Stresstest im Juli am schlechtesten abgeschnitten und braucht fünf Milliarden Euro neues Kapital. Vom Ausgang des Referendums hängt ab, ob genügend Investoren gefunden werden. Müsste die toskanische Großbank abgewickelt werden, würde das gesamte italienische Bankensystem erschüttert. Doch nicht nur MPS gibt Anlass zur Sorge, die italienischen Institute schleppen etwa 360 Milliarden an faulen Krediten mit sich herum. Damit haben die wichtigsten italienischen Geldhäuser 29 Prozent aller faulen Kredite von Großbanken in der Eurozone in ihren Büchern, wie aus Daten der Europäischen Zentralbank hervorgeht.

Das dritte Sorgenkind neben den inzwischen auf 2250 Milliarden Euro angestiegenen Staatsschulden (133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und den angeschlagenen Banken ist die weiterhin schwache italienische Wirtschaft, immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der EU. Nach Jahren der Rezession und dem Verlust von 25 Prozent der Industrieproduktion kommt Italien weiterhin nicht recht auf die Beine. Gerade einmal 0,9 Prozent Wachstum sind für 2017 in Aussicht. Arbeitslosigkeit (11,7 Prozent) und Jugendarbeitslosigkeit (37 Prozent) sind immer noch hoch.

Es steht also viel auf dem Spiel beim Verfassungsreferendum am Sonntag. Doch eigentlich entscheiden die Italiener "nur" darüber, ob das parlamentarische System vereinfacht werden soll. Stimmt die Mehrheit für die Reform, würde künftig nur noch eine der beiden Parlamentskammern in Rom für den Großteil der Gesetzgebung zuständig sein. Bisher pendeln Gesetze vor ihrer endgültigen Verabschiedung teilweise lange zwischen den beiden Kammern hin und her. Regierungen bräuchten künftig nur noch die Bestätigung des Abgeordnetenhauses und nicht mehr auch des Senats. Die Regionen müssten Kompetenzen an Rom abgeben. "Entscheidungen könnten künftig viel schneller getroffen werden", erklärt Gutgeld. Das würde der darbenden italienischen Wirtschaft entgegenkommen.

Weil Renzi selbst die Verfassungsreform vor Monaten zur "Mutter aller Schlachten" überhöhte und das Referendum damit zur Abstimmung über sich selbst erklärte, geht es nun auch um das Fortbestehen seiner Regierung. Ein Nein brächte Renzi schwer in Bedrängnis, ein Ja würde ihn stärken. "Ich bin Optimist", sagt der gebürtige Israeli Gutgeld. Seit drei Jahren ist der ehemalige McKinsey-Manager als Berater in Diensten Renzis, vor einem Jahr ernannte der Premier Gutgeld zudem zum Sparkommissar der Regierung. Seither muss der 56-Jährige die Staatsfinanzen nach streichbaren Posten durchforsten. An Gutgelds Arbeit sieht man, wie mühsam es ist, Reformen in Italien voranzubringen, wenn man gleichzeitig den Rückhalt beim Volk nicht verlieren will.

Zum einen sind da vorzeigbare Ergebnisse, in erster Linie die von Gutgeld mitgestaltete Arbeitsmarktreform und der Versuch, die Bürokratie zu beschneiden. Der 59-jährige hat es geschafft, über 30 Milliarden Euro im Staatshaushalt einzusparen. Anstatt den 2250-Milliarden-Schuldenberg zu reduzieren, wurden die Einsparungen für andere Zwecke komplett wieder ausgegeben. Ein monatlicher Bonus von 80 Euro für Geringverdiener ist dabei der größte Posten. Am Montag versprach Renzi auch Pensionisten 30 bis 50 Euro mehr am Monatsende. Gutgeld rechtfertigt die Ausgaben als konsumfördernde Steuerreduzierungen und als Unterstützung sozial schwächerer Schichten. Kritiker erkennen in den Maßnahmen schlicht Wahlgeschenke.

Monti wurde nach Pensionsreform abgewählt

Renzis Politik gleicht einem Drahtseilakt. Auf der einen Seite müssen alte Privilegien beschnitten werden, andererseits will es sich der Premier aber nicht mit den Wählern verscherzen. Verspricht dieser Weg Erfolg? Einer der Vorgänger Renzis, Mario Monti, brachte nach seiner Nominierung zum Premierminister 2011 vor dem Szenario eines drohenden Staatsbankrotts eine wichtige Pensionsreform durch. Monti wurde abgewählt, bis heute gilt er in Italien als verantwortlich für Steuererhöhungen und unangenehme Sparmaßnahmen. Renzi will dieses Schicksal vermeiden. Ohne Konsens im Volk, so lautet sein inoffizielles Credo, sind keine Reformen zu machen.

Optimisten hoffen daher, die Zustimmung der Italiener zur Verfassungsreform könnte Renzi mit neuem Elan für Reformen ausstatten. Yoram Gutgeld ist überzeugt von seinem Chef. Renzi sei ein Vollblutpolitiker, aber von Interessengruppen wie Gewerkschaften oder Lobbies unabhängig. "Er ist der Einzige, der Italien verändern kann", schwärmt der Sparkommissar. Am Sonntag wird sich zeigen, ob die Italiener genauso begeistert sind.