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Selten wurde ein neues Jahr in Argentinien mit so viel Euphorie begrüsst. Endlich, nach mehr als sechs Jahren Rezession, glauben knapp 65% der Argentinier, dass es ihnen 2004 besser gehen wird. Argentinien, so scheint es, hat die Talsohle seiner Jahrhundertkrise, die Millionen in die Armut trieb, durchschritten.
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Für 2004 wird ein Wirtschaftswachstum von 6-7% prognostiziert, die Arbeitslosigkeit sank schon 2003 um 4% auf 16% und die jetzige Reisewelle in die Ferien zeigt, dass zumindest die Mittelschicht den Aufschwung langsam zu spüren bekommt.
Der gefeierte Held des Landes ist zweifelsohne Präsident Néstor Kirchner. Er vereint seit seinem Amtsantritt im Mai 2003 ungebrochen fast 90% der Bevölkerung hinter sich. Seine Frau, die Senatorin Christina F. de Kirchner, und Wirtschaftsminister Roberto Lavagna folgen ihm auf den Fuss auf der Liste der beliebtesten Politiker. Kirchner hatte versprochen, die argentinische Politik von Grund auf zu erneuern - und er hält Wort.
Welche Ausmaße die Korruption im letzten Jahrzehnt angenommen hatte, zeigt ein kürzlich aufgedeckter Bestechungsskandal im Senat. Im April 2000 wurden mit fünf Mill. US-Dollar aus der Reserve des Geheimdienstes SIDE die Zustimmung von sechs Senatoren zu einem vom Internationalen Währungsonds (IWF) geforderten Arbeitsgesetz gekauft. Die laufenden Ermittlungen könnten sogar bis zum Ex-Präsidenten Fernando De la Rúa führen, der beschuldigt wird, den Auftrag zu diesem Handel gegeben zu haben.
Frauenpower als Speerspitze gegen die Korruption
Mit der überraschenden Berufung von zwei Frauen in Schlüsselpositionen setzte Néstor Kirchner seine Politik der Erneuerung gleich zu Jahresbeginn fort. So wurde Graciela Ocaña zur Vorsitzenden des Rentenfonds PAMI. Ocaña, Mitglied der Oppositionspartei ARI, deren Hauptanliegen der Kampf gegen die Korruption ist, steht nicht nur für einen Neuanfang in einer Institution, die auf Kosten der Pensionisten zum Selbstbedienungsladen verkommen war. Ihre Ernennung offenbart gleichzeitig den Willen der Regierung, über Parteigrenzen hinweg die Sozialreformen in Argentinien voranzutreiben.
Zeitgleich schlug der Präsident Carmen Argibay als Mitglied des Obersten Gerichtshofes vor. Die Richterin ist seit 2001 am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig und genießt in ihrem Land hohes Ansehen. Sie soll nun den Platz von Guillermo López einnehmen, der sich wegen Bevorteilung im Amt zu verantworten hat.
Die gleiche Vehemenz, mit der Kirchner im Land durchgreift, legt er auch in der Außenpolitik an den Tag. US-Präsident George W. Bush, der Kirchner harsch aufgrund Argentiniens Kuba- und Schuldenpolitik zu einem Treffen bestellte, antwortete der Präsident, dass ihn niemand zu sich zitiere und schon gar nicht, um ihn zu maßregeln. Diese Haltung brachte Kirchner den Applaus der meisten seiner lateinamerikanischen Amtskollegen ein. Ein ähnlicher Ton wird das jetzige Aufeinandertreffen der beiden Staatsoberhäupter beim Amerika-Gipfel in Monterrey/Mexiko bestimmen, zumal Argentinien trotz internationalen Drucks an seiner Position festhält, nur 25% der Schulden von privaten Gläubigern zurückzuzahlen. Zu mehr sieht sich das Land nicht imstande, will es die momentane Erholung der Wirtschaft nicht gefährden, so das Argument der Regierung. Die dringenden sozialen Probleme der Bevölkerung haben nach Ansicht von Kirchner Priorität.
Arbeitslosigkeit bleibt die größte Herausforderung
Denn nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit mit all ihren Konsequenzen laut einer Umfrage des Instituts CEOP die grösste Sorge der Argentinier. Auch wenn ein erster leichter Aufschwung spürbar ist, bleiben doch grosse Teile der Bevölkerung davon noch immer ausgeschlossen. Tausende Argentinier leben vom Müll der anderen und Kinder leiden weiterhin an Unterernährung in einem Land, das zehn Mal mehr Nahrungsmittel produziert als für die Versorgung seiner Bevölkerung nötig wären. Die anhaltenden Prosteste der Arbeitslosenbewegungen, der Piqueteros, offenbaren den enormen Handlungsbedarf. Mit einem ersten Programm, inspiriert am Modell der "Bank der Armen" des Bengalesen Mohamed Yunus, wird jetzt über Kleinkredite die Gründung von lokalen Unternehmen unterstützt.
Das Jahr 2004 wird eine Herausforderung für Argentiniens Politik. Denn was sich heute als Hoffnung und Unterstützung für Präsident Kirchner manifestiert, kann morgen zur - aufrührerischen - Forderung werden, wenn sich nicht schnell Ergebnisse zeigen.