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Aufgeklärter Katastrophismus

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Das Erdbeben 2011 in Japan wurde vom Gouverneur Tokios als "göttliche Strafe" bezeichnet.
© getty images/Chris McGrath

Nach Unglücken wird rasch die Schuldfrage gestellt - das gilt auch für die Corona-Krise. Der Philosoph Jean-Pierre Dupuy plädiert für einen anderen Blickwinkel.


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Die Corona-Pandemie hat für großes menschliches Leid gesorgt. Rund 820.000 Menschen sind bisher an dem Virus gestorben. Familien haben ihre Angehörigen verloren, Arbeiter ihre Arbeitsplätze, einige Generationen vielleicht sogar ihre Zukunft. Die Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht repariert (einzelne Risse werden noch in Jahrzehnten zu sehen sein), da beginnt schon die Suche nach dem Sündenbock.

Für Donald Trump steht fest: China ist schuld an der Pandemie! Außenminister Mike Pompeo sekundierte, China müsse für die globale Pandemie "einen Preis bezahlen", was schwer nach Reparationszahlungen klang. Natürlich ist diese Schuldzuweisung ein wahlkampftaktisches Manöver, um von Trumps desaströsem Krisenmanagement abzulenken. Doch darin zeigt sich auch ein moraltheoretisches Muster, bei allem Übel nach einem Schuldigen zu suchen. Auch die "Deutsche Welle" fragte in einem Artikel: "Ist China schuld an der Corona-Pandemie?". Das ist in der Bewertung etwas vorsichtiger, die Stoßrichtung aber ist dieselbe.

Selbstanklage

Der Theologe Klaas Huizing sagte kürzlich in einem Interview mit der "Saarbrücker Zeitung": "Ich plädiere dafür, in der aktuellen Krise zunächst ein Moratorium in der Schuld-Frage - nicht in der Frage nach Exit-Strategien - einzulegen und alle Kräfte zu bündeln, um diese Krise zu meistern." Auch in die ökologische Kritik mischen sich zuweilen theologische Motive der Schuld (stellvertretend: Ann Neumann, "Unnatural Disasters. On the pandemics we make for ourselves.", "The Baffler" No. 52 2020). Der Mensch, so der Tenor, habe über seine Verhältnisse gelebt, Ressourcen ausgebeutet, Ökosysteme zerstört, den Planeten aufgeheizt. Und jetzt bekommt er die Quittung. Der Planet ist krank, also sind wir Menschen es jetzt auch. Corona, so liest man es zwischen den Zeilen dieser Selbstanklage, ist eine göttliche Strafe für die menschliche Hybris.

Natürlich gibt es zwischen einer Cholera- und Corona-Krise insofern einen qualitativen Unterschied, als es sich bei Covid-19 um eine zoonotische Infektionskrankheit handelt, also einen Erreger, der vom Tier auf den Menschen überspringt. Trotzdem ist und bleibt eine Pandemie eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben oder Wirbelsturm. Mit dem Unterschied, dass sie in Zeitlupentempo abläuft. Vor diesem Hintergrund wirkt die Schuldfrage - bezogen auf den Ausbruch, nicht das politische Management - einigermaßen verwegen.

Hat jemand Schuld an einem Erdbeben? An einer Trockenheit oder Flut? Kann man jemandem wegen eines Virus oder Vulkanausbruchs einen moralischen Vorwurf machen? Kann man die Natur anklagen? Oder die Menschheit für die Launen der Natur in Haftung nehmen? Der französische Denker Voltaire schrieb in seinem Gedicht über das Erdbeben von Lissabon, bei dem am 1. November 1755 mindestens 30.000 Menschen ums Leben kamen: "Welcher Tat, welcher Schuld sind sich Kinder bewusst / die verblutend zerquetscht sind an der Mutterbrust? / Schwimmen London, Paris nicht in Genüssen und Spiel? / Als Lissabon versank, tanzt’ Paris noch dazu." Das Erdbeben von Lissabon zeitigte auch Erschütterungen und Verwerfungen in der geistigen Landschaft.

Darstellung des Erdbebens in Lissabon am 1. November 1755, Kupferstich.
© Unbekannt

Der Philosoph Immanuel Kant, dessen Wirken als Naturforscher erstaunlich wenig rezipiert ist (unter anderem befasste er sich mit Geophysik und der "Theorie der Winde"), versuchte in seinen Erdbebenschriften, mit dem Mystizismus der Gewalt eines göttlichen Zornes aufzuräumen und eine wissenschaftliche, rationale Erklärung für die Erdstöße zu liefern: "Wir wohnen ruhig auf einem Boden, dessen Grundfeste zuweilen erschüttert wird. Wir bauen unbekümmert auf Gewölben, deren Pfeiler hin und wieder wanken und mit dem Einsturze drohen." Diese vernunftgeleitete Erklärung bereitete den Boden für eine moderne Gesellschaft, die die Kräfte der Natur bändigt und rationalisiert.

Natürlich gibt es auch in einer hoch technisierten Gesellschaft immer noch Naturkatastrophen. Man denke an den Tsunami 2004, bei dem 228.000 Menschen starben, oder die Atomkatastrophe von Fukushima 2011, der eine doppelte Naturkatastrophe - Seebeben und Tsunami - vorausging. Der moderne Mensch hat Risiken nicht minimiert, im Gegenteil, er hat neue Risiken geschaffen (etwa durch die Entwicklung der Nuklearenergie), aber zumindest die Folgen von Naturkatastrophen beherrschbar gemacht (durch sichere Bauweise oder Impfstoffe). Doch je mehr wir die physikalischen, chemischen und biologischen Wechselwirkungen der Erde verstehen, je rationaler unser Verständnis des Planeten und unserer selbst wird, desto irrationaler wird der Umgang mit der Natur, desto mehr kommt der naturalistische Mystizismus zum Vorschein, den man eigentlich für überwunden glaubte.

Rechtfertigungsfrage

Der Gouverneur von Tokio, Shintaro Ishihara, bezeichnete den Tsunami 2011 in Japan als eine "göttliche Strafe" für den Egoismus seiner Bewohner. Dafür musste er sich später öffentlich entschuldigen. Ein solches Denken würde man vom Oberhaupt eines Naturvolks, nicht aber von einem Politiker einer Industrienation erwarten - ganz gleich, wie sehr die Vorstellung eines Strafgerichts im Shintoismus verwurzelt sein mag. Es scheint, als würden in einer Katastrophe bestimmte rationale Funktionen der modernen Gesellschaft aussetzen. Der Mensch sucht dann Halt in außerweltlichen Zeichen und Deutungen, im Glauben, in Mythen oder Verschwörungstheorien. Nach dem Motto: Wenn etwas Schlimmes passiert, gibt es einen Schuldigen. Einen Sündenbock.

Das Wort Epidemie ist abgeleitet vom griechischen "epi" (darüber) und "demos" (Volk) und bedeutet so viel wie "eine Krankheit, die über dem Volk liegt". Schon begrifflich liegt also etwas Unheilvolles in der aktuellen Krise. Doch kann es sein, dass diese Mystifizierung paradoxerweise gerade in der Entmystifizierung der Welt durch Technik und Maschinen begründet liegt?

Jean-Pierre Dupuy.
© Stanford

Der französische Philosoph Jean-Pierre Dupuy hat vor einigen Wochen ein sehr interessantes Interview in "Le Monde" gegeben. Darin sagt er sinngemäß, dass die Säkularisierung moderner westlicher Gesellschaften die Folge einer permanenten Selbstgeißelung sei. In dem Moment, wo das göttliche Urteil durch das menschliche (vernunftgeleitete) Urteil ersetzt worden sei, sei der Weg für die Anklage des Menschen freigemacht worden. Aus der sogenannten Theodizee-Frage, die nach dem Erdbeben von Lissabon gestellt wurde, sei eine Anthropodizee-Frage geworden. Es geht nicht mehr um die Frage nach der Rechtfertigung Gottes, sondern um die nach der Rechtfertigung des Menschen.

Und das schließt die Schuldfrage mit ein. Nicht Gott ist schuld am Klimawandel, sondern der Mensch: der Fleischesser, der Billigflieger, der Serienstreamer. Es gibt nicht mehr den strafenden Gott, den man um Vergebung für seine Sünden bitten kann, sondern bloß noch den Menschen, der sich nur selbst anklagen und bestrafen kann (etwa in Form von Verzicht oder modernem Ablasshandel).

"Nehmen Sie ein Erdbeben, einen Tsunami, einen Vulkanausbruch, einen Hurrikan, eine Trockenheit, eine Überschwemmung - Sie werden immer Verantwortliche und damit einen Schuldigen finden", sagte Dupuy im Interview. "Für Sars-CoV-2 gilt dasselbe: Man hat die Wahl zwischen China, Wildtiermärkten, Angriffen auf die Biodiversität, Billigfliegern, und warum nicht, dem Anthropozän oder dem Neoliberalismus. (. . .) Das Problem ist: Wenn wir die einzige Ursache des Übels, das uns heimsucht, sind, steigt unsere Verantwortung ins Unermessliche."

Schutzlosigkeit

Die Hybris, Gott spielen zu wollen, führt also auch zu einer Verantwortungshybris. So viel Unheil, wie der Welt widerfährt, so viel Schuld können die Menschen gar nicht auf sich laden. Dupuy plädiert daher für einen philosophischen Paradigmenwechsel: einen "aufgeklärten Katastrophismus". In seinem gleichnamigen Buch ("Pour un catastrophisme
éclairé - Quand l’impossible est certain"), das 2004 bei Seuil erschienen ist und in der Krise neue Aufmerksamkeit erlangte, kritisiert er, dass die postindustrielle Gesellschaft die Idee der Katastrophe verworfen habe. Die Folge: Wir sind nicht auf das Unerwartete vorbereitet. Und daher trifft uns eine globale Pandemie auch so heftig, weil das Szenario niemand für realistisch hielt. Die einzige Gewissheit, die man in einer Zeit der Ungewissheit haben kann, ist, dass das (vermeintlich) Unmögliche sehr wahrscheinlich ist.

Dupuys Denkfigur des "aufgeklärten Katastrophismus" sieht vor, die Katastrophe in das Risikomanagement einzupreisen und sich nicht hinter einem Pseudoprinzip der Vorsicht zu verstecken. Denkt man dieses Axiom weiter, sind die ganzen Prognosealgorithmen epistemisch völlig falsch "programmiert", weil sie suggerieren, eine Entwicklung beherrschbar machen oder gar abwenden zu können, die aber letztlich - ganz unfatalistisch gedacht - unausweichlich ist. Selbst die beste Technik wird uns vor der nächsten Pandemie nicht schützen können. Der moderne Mensch muss mit der Katastrophe leben.

Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und
Rechtswissenschaft. Er schreibt als freier Journalist für diverse Medien
im deutschsprachigen Raum.