Ambulante Angebote und Ausweitung von Telefondiensten und Video-Therapien könnten Kollateralschäden vermieden haben.
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Die Zahl psychisch Erkrankter im stationären Bereich ist während des Lockdowns im April um beinahe die Hälfte zurückgegangen. Im März waren noch 6007 Patienten wegen psychischer Erkrankungen im Krankenhaus, im April waren es dann nur mehr 3364. Das geht aus der Antwort von Gesundheitsminister Rudolf Anschober auf eine parlamentarische Anfrage der FPÖ hervor. Im Durchschnitt waren im Vorjahr rund 6500 Personen stationär in Behandlung, der Rückgang ist daher schon ungewöhnlich stark.
Ergänzt wird die Anfragebeantwortung durch den Hinweis auf Studien, die während des Lockdowns durchgeführt wurden, wonach sich die psychische Gesundheit in dieser Zeit verschlechtert hätte. Befragt wurden 1000 repräsentativ ausgewählte Personen zu Angst, Depressivität und Suizidalität. Während sich Angst und Depressivität verstärkten, minderten sich Suizidgedanken etwas. Die erste Analyse zu Todesursachen im März und April fand auch keine Häufung von Suiziden.
Warum kam es also zu einem Rückgang von stationären Aufnahmen, wenn sich die psychische Gesundheit verschlechtert? Bei der Befragung der MedUni Wien wurden keine Diagnosen gestellt, doch Studienleiter Thomas Niederkrotenthaler glaubt auch nicht an einen Rückgang der Erkrankungen. Vor allem Jüngere berichteten von mehr Angst und Depressivität.
"Muss sich die Einzelfälle ansehen"
Vorerst nur anekdotisch gibt es aber durchaus auch gegenteilige Berichte, wonach der Lockdown für spezifische Symptomatiken sogar eine positive Wirkung hatte. Darunter fallen etwa auch Schüler und Schülerinnen mit Schulangst. Oder auch Sozialängste. "Der Druck, sozial zu funktionieren, alles unter einen Hut bringen zu müssen, kann sich entspannen", erzählt Primar Robert Herz vom Sozialpsychiatrischen Ambulatorium Floridsdorf. "Andere waren aber auch mehr belastet, da gab es viel Anspannung", sagt Herz. Die Heterogenität sei so groß, dass bei der Interpretation der nackten Zahlen Vorsicht geboten sei. "Man muss sich die Einzelfälle ansehen", sagt er.
Johannes Wancata, der Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie am AKH Wien, bestätigt den Rückgang der stationären Aufnahmen. "Alle Fachgebiete haben Betten für Covid-Patienten gesperrt", sagt er. Auch die Psychiatrie. Es hätten ja auch Covid-positive Patientinnen und Patienten kommen können. Hauptsächlich sei der Rückgang aber einer (temporären) Nichtanspruchnahme geschuldet gewesen. Es ist auch die Erfahrung bei anderen Erkrankungen gewesen, dass in der Hochphase der Epidemie nicht notwendige Spitalsbesuche aus Angst vermieden wurden. Oder nicht notwendig geglaubte. Nur so ist zu erklären, dass selbst bei Herzinfarkten ein Rückgang um 40 Prozent registriert wurde. Mit potenziell bedrohlichen Folgen.
Die Frage ist daher auch, welche Kollateralschäden dadurch entstanden sind. Besonders rückläufig war die Entwicklung bei Alkohol indizierten Erkrankungen, wobei Entzug darunter fällt sowie Spitalsaufnahmen nach einem Alkoholexzess. Letzteres kann auch begünstigt worden sein, dass keine Lokalbesuche möglich waren. Aber auch bei Depressivität ging die Zahl der stationären Patienten sehr deutlich zurück, bei Psychosen blieb sie indessen stabil.
Keine Belege für Kollateralschäden
Laut Wancata sind viele geplante Behandlungen aufgeschoben worden oder in den ambulanten Bereich gewandert, teilweise auch über (Video-)Telefonat geführt worden. "Wäre das Ganze über Jahre gegangen, hätten wir massive negative Effekte. Für die kurze Zeit habe ich keine Belege, dass es zu langfristigen Schäden gekommen ist", sagt Wancata. Das Aufschieben und Zuwarten hätte aber, so Wancata, dazu geführt, dass einige Patienten in einem dann schon schlechteren Zustand zur Aufnahme ins Krankenhaus kamen. Auch das hörte man von organischen Erkrankungen. "Aber das muss sich auch nicht über Jahre auswirken." Bei einem Herzinfarkt ist die Folge der Nichtbehandlung dramatischer.
Dass bei psychischen Erkrankungen der niedergelassene Bereich sowie Telefondienste und Skype-Therapien einen Teil der Behandlungsbedürfnisse offenbar kurzfristig auffangen können, ist eine Erkenntnis von März und April. "Wir müssen aber noch lernen, wie es den Betroffenen mit diesen Ressourcen (Skype, Telefonate, Anm.) gegangen ist", sagt Niederkrotenthaler. Es gab eine deutliche Ausweitung der Angebote, nicht alle sind genutzt worden, wie aus Kliniken berichtet wird. Die Nutzung von Telefonseelsorge dürfte aber wiederum deutlich zugenommen haben. All diese Erfahrungen sind auch für die Zukunft wichtig, zumal eine zweite Welle nicht ausgeschlossen ist. Und eventuell auch ein zweiter Lockdown.