Tunesiens Islamisten sind gegen Regierung der nationalen Einheit.|Opposition ruft zu Generalstreik auf.
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Tunis. Zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings geht Tunesien in eine völlig ungewisse Zukunft. Nachdem am Mittwoch der führende Oppositionspolitiker Chokri Belaid ermordet worden war, kündigte Premier Hamadi Jebali die Auflösung der Regierung, die Bildung eines Expertenkabinetts und Neuwahlen an. Doch er hatte die Rechnung ohne Wirt gemacht, denn die islamistische Ennahda-Partei, der auch der Premier angehört, legte sich quer. Parteivize Abdelhamid Jelassi erklärte am Donnerstag, der Premier habe seine Entscheidung ohne Absprache mit der Partei getroffen. Das Land brauche weiterhin Politiker in der Regierung, man wolle das Feld nicht räumen. Auch die Opposition wirft dem Regierungschef Prügel zwischen die Füße: Man hätte sich erwartet, zunächst einmal konsultiert zu werden, heißt es hier.
Gefährliche Eskalation
Damit spitzt sich die Lage in Tunesien gefährlich zu. Der Premier wollte mit seiner Maßnahme die wütenden Demonstranten in Tunis und in Sidi Bouzid - also da, wo die Revolution 2010 ihren Ausgang nahm - beschwichtigen. Das ist vorerst gründlich misslungen, die Gefahr besteht, dass die Unruhen zunehmen. Die Demonstranten machen Islamisten für die Ermordung Belaids, einem der prominentesten Menschenrechts-Aktivisten und schärfsten Kritiker der Islamisten, verantwortlich. Bei den jüngsten Unruhen in der Hauptstadt Tunis ist bereits ein Polizist zu Tode gekommen. Am Freitag soll ein Generalstreik - der erste seit 34 Jahren - das Land lahmlegen, alle französischen Schulen in Tunis haben aus Angst vor gewalttätigen Zusammenstößen geschlossen. Schon am Donnerstag kam es vor dem Innenministerium in Tunis zu Krawallen, die Polizei setzte Tränengas ein. Krawalle gab es auch in der südtunesischen Stadt Gafsa.
Tunesien hat eine lange säkulare Tradition, der Widerstand gegen die moderat islamistische Ennadah, die die Wahlen 2011 gewonnen hat und mit zwei liberalen Parteien koaliert, ist seit Monaten massiv. Die moderaten Kräfte in der Partei werden von Hardlinern dazu gedrängt, einen kompromissloseren Kurs einzuschlagen. Nicht wenige Tunesier befürchten, dass die Islamisten insgeheim nach der absoluten Macht streben - ihre Weigerung, eine Regierung parteiloser Experten zuzulassen, könnte als ein weiteres Indiz dafür gedeutet werden. Als die Ennahda nach den Wahlen 2011 an die Regierung kam, versprach sie, islamische Prinzipien mit tolerantem Pluralismus in Einklang zu bringen. Daran glauben die wenigsten.
Belaids Mörder sind nicht gefasst. Augenzeugen zufolge soll es sich um zwei bewaffnete Männer gehandelt haben, die dem Oppositionspolitiker vor dessen Haus aufgelauert hätten. Belaid soll laut Polizei von vier Kugeln getroffen worden sein. Die Täter waren angeblich über 30 Jahre alt, ob sie aus den Reihen der radikalislamischen Salafisten stammen, ist nicht klar. Die Ennadha hat jedenfalls umgehend dementiert, irgendetwas mit dem Mord zu tun zu haben.
Der Mord ist das erste politische Attentat in Tunesien seit dem Sturz von Diktator Ben Ali. In Ägypten fühlt man sich an die Zustände im eigenen Land erinnert, wo liberale und säkulare Kräfte gegen den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi Front machen. Die Alarmglocken schrillen, auch hier ist die Angst groß, dass die Muslimbrüder nach der absoluten Macht streben und Mursi als "Hosni Mubarak mit Bart" in die Geschichte eingeht. Man müsse sich der Gewalt, der Radikalisierung und "den Kräften der Dunkelheit entgegen stellen", wenn man Freiheit und Demokratie wolle, twittert der ägyptische Oppositionellen Amr Hamzawy.
Die ägyptischen Muslimbrüder versichern ebenso wie Ennahda, dass man Mord als Mittel der Politik verurteile. Man lehne außerdem "den Einsatz von Gewalt und Schlägertrupps ab", so Mahmoud Ghozlan, Sprecher der Muslimbrüder.
Tunesiens Staatschef Moncef Marzouki, ein Dissident und Menschenrechtler, der dem säkularen Lager angehört und den ermordeten Belaid gut gekannt haben soll, versucht, die Lage zu beruhigen und ruft seine Landsleute zur Besonnenheit auf. Das sei ein Versuch gewesen, einen Keil zwischen Säkulare und Religiöse zu treiben, doch man werde die Feinden der Revolution "demaskieren", so der Präsident.
Das österreichische Außenministerium warnt unterdessen vor "hohen Sicherheitsrisiken" in Tunesien. Vor allem in größeren Städten seien Menschenansammlungen zu vermeiden und den Anordnungen der Sicherheitskräfte unbedingt Folge zu leisten. Es wird zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen.