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Aufschub für die Verfassung

Von Waldemar Hummer

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Wie geht es mit der EU-Verfassung weiter? Wie mit dem Finanzrahmen für die Jahre 2007 bis 2013? Was bedeutet das Hochschulzugangs-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Österreich? All dies sind politisch heikle Fragen, für die es auch juristische Antworten braucht. In dieser unregelmäßig erscheinenden Kolumne beleuchtet die "Wiener Zeitung" aktuelle rechtliche Probleme Europas.Nach der Verwerfung des Verfassungsvertrages (VV) in den beiden Referenden in Frankreich (54,9 Prozent) und in den Niederlanden (61,6 Prozent) standen die Staats- und Regierungschefs grundsätzlich vor drei Alternativen: sofortiger Abbruch des Ratifikationsprozesses, Verdichtung desselben bis Ende 2005 oder Ausdehnung über den 1. November 2006 hinaus. Am Europäischen Rat in Brüssel entschieden sie sich in der Vorwoche für die dritte Variante und schoben das geplante Datum für das Inkrafttreten des VV bis Mitte 2007 hinaus. Die dadurch gewonnene "Periode der Reflexion" sollte zu einer besseren Aufklärung der europäischen Öffentlichkeit führen und es unter Umständen ermöglichen, die beiden bisherigen - oder vielleicht auch noch weitere - "Ratifikationsunfälle" auszumerzen.


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Die Staats- und Regierungschefs setzten sich mit dieser Vorgangsweise aber über das Szenario hinweg, zu dem sie sich im VV selber vertraglich verpflichtet hatten. Die Schlussbestimmungen eines ratifikationsbedürftigen Vertrages gelten nämlich bereits mit dessen Unterzeichnung.

Gemäß Art. IV-447 Abs. 2 VV würde der VV am 1. November 2006 in Kraft treten, sofern alle Ratifikationsurkunden der 25 Mitgliedstaaten bei der italienischen Regierung hinterlegt worden sind - anderenfalls am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.

Für eventuelle "Ratifikationsunfälle" sah die Erklärung (Nr. 30) zur Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa in der Schlussakte zum VV vor, dass der Europäische Rat dann befasst werden soll, wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des VV, das heißt am 29. Oktober 2006, zwar vier Fünftel der Mitgliedstaaten (also 20 EU-Mitgliedstaaten) den VV ratifiziert haben, in einem oder mehreren Mitgliedstaaten aber Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind. Damit ist aber eindeutig klargestellt, dass eine Pflicht zur Durchratifizierung des VV besteht und dieser Prozess jetzt nicht beendet werden darf. Auch die Erstreckung der vertraglich fixierten Ratifikationsfrist von Ende Oktober 2006 auf Mitte 2007 könnte nur durch die Mitgliedstaaten als "Herren der Verträge" vorgenommen werden. Der Europäische Rat setzte sich mit seinem Beschluss an deren Stelle.

Univ.-Prof. DDDr. Waldemar Hummer ist Leiter des Instituts für Völkerrecht, Europarecht und Internationale Beziehungen an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck.