Ökonom Sándor Richter kritisiert die "sehr kurzfristige" wirtschaftspolitische Strategie von Premier Viktor Orbán.
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Budapest/Wien. Bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen kann sich ein Regierungschef kaum wünschen, um einen Wahlkampf zu bestreiten. Am Sonntag will Viktor Orbán von den Ungarn das Mandat für seine dritte Amtszeit in Folge erhalten. Er kann darauf verweisen, dass das Wirtschaftswachstum deutlich höher als im EU-Schnitt sowie in Österreich ist. Die Arbeitslosenquote liegt laut EU-Statistikbehörde Eurostat in lediglich drei Unionsländern unter dem ungarischen Wert. Analog dazu sind die Grundgehälter in Ungarn sprunghaft gestiegen: um 6 Prozent bei Angestellten, bei Facharbeitern sogar um 7,4 Prozent von September 2016 bis September 2017. Für heuer rechnen die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer und die Personalberatung Kienbaum mit einem Plus von 6,4 Prozent für Angestellte und 6,8 Prozent für Facharbeiter.
Interventionismus in Form von Pensionskassenraub...
Rückblick: 2008 retteten der Internationale Währungsfonds, die EU und die Weltbank Ungarn - damals von den Sozialisten regiert - mit einem Notkredit in Höhe von 20 Milliarden Euro vor der Staatspleite. Viktor Orbán wurde 2010 Premier eines Krisenlandes.
Der Umbau der Staatsstrukturen in den Jahren der Fidesz-Alleinregierung machte auch vor der Wirtschaft nicht Halt. So sicherte sich die mit Zweidrittelmehrheit ausgestattete Partei nicht nur Einfluss über die Nationalbank. Sie traf auch höchst umstrittene Entscheidungen. Höhepunkt war die Plünderung der privaten Pensionskassen - die ironischerweise unter Orbán in dessen erster Amtszeit von 1998 bis 2002 eingeführt worden waren. Der Premier ließ diese im Jahr 2011 verstaatlichen. Rund zehn Milliarden Euro flossen auf diese Weise in das Staatsbudget. Für Aufregung auch in Österreich sorgte die Bankensteuer, schließlich sind die heimischen Finanzinstitute Erste und Raiffeisen in Ungarn stark vertretenen. Allerdings befeuerten die Geldhäuser eine Krise, indem sie Immobilien- und Konsumkredite in Fremdwährungen anboten. Doch dann schoss der Schweizer Franken gegenüber dem Forint durch die Decke. Mit Sondersteuern überzogen wurden auch der Einzelhandel und der Energiesektor. Die verarbeitende Industrie hätschelt Orbán jedoch - an der Spitze die deutschen Autobauer Daimler und Audi. Sie danken es, bauen ihre Werke kontinuierlich aus.
Trotz der fehlenden rechtsstaatlichen Sicherheit kehrten aber nur die allerwenigsten Unternehmen Ungarn den Rücken. Sie schafften jedoch Anfang der 2010er Jahre ihre Gewinne möglichst geräuschlos außer Landes. Viele Ungarn stimmten mit den Füßen ab; je nach Berechnung verließen 300.000 bis 500.000 Menschen seit Orbáns Wahl 2010 das Land. Sie fehlen nun in Zeiten der Hochkonjunktur, insbesondere bei Facharbeitern ist der Mangel eklatant. Die Auswanderer helfen Orbán jedoch doppelt: Der ungarische Staat muss für sie keine Sozialkosten tragen. Und da die Auswanderer Devisen in die Heimat schicken, kurbeln sie den Konsum in Ungarn an. Auf ein bis zwei Milliarden Euro pro Jahr schätzt Sándor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) die Überweisungen der Auslandsungarn. Diese seien eine wichtige Quelle des derzeitigen Wirtschaftswachstums.
Ein wesentlich größerer Wachstumsschub resultiert aus den EU-Transferleistungen. 21,5 Milliarden Euro stehen Ungarn aus diversen Fonds von 2014 bis 2020 zur Verfügung; jährlich im Durchschnitt rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Problematisch war, ist und bleibt wohl die Vergabe öffentlicher Aufträge aus diesen Töpfen an Günstlinge aus dem Fidesz-Umfeld. Und während die anderen Visegrád-Länder Polen und Tschechien sowie die Slowakei die Gelder über den gesamten Zeitraum gleichmäßig abrufen würden, habe Ungarn bereits jetzt den Großteil ausgegeben. "Zwar stimulieren die EU-Gelder derzeit alle Wirtschaftszweige und auch in den weniger entwickelten Gebieten im Osten Ungarns herrscht Wachstum. Die Regierung hofft, dass die gesamte Wirtschaft in Gang bleibt, wenn die europäischen Mittel versiegt sind", sagt Sándor Richter. Der Ökonom zweifelt jedoch an diesem Konzept. "Orbáns Regierung fährt eine sehr kurzfristige Strategie. In ein bis zwei Jahren ist der Boom zu Ende, schwierige Jahre werden folgen."
Kritisch betrachtet der WIIW-Forscher auch die aktuell imposanten Wirtschaftsdaten aus Ungarn im Vergleich mit jenen anderer Staaten. Der Aufschwung sei dem sehr niedrigen Ausgangsniveau geschuldet: "In den vergangenen acht bis zehn Jahren war das Wachstum in Polen, Tschechien und der Slowakei kumuliert höher als in Ungarn."
...trifft auf Niedrigsteuersätze für Unternehmer
Weniger rosig steht es auch um Ungarns Budget. Minus 3,9 Prozent im dritten Quartal des Vorjahres bedeuteten laut Eurostat den schlechtesten Wert aller Unionsländer. Orbáns Eingriffen in den Staat, etwa bei den Pensionskassen, steht eine extrem liberale Steuerpolitik für Unternehmer gegenüber. Seit 2017 beträgt die Körperschaftssteuer (KöSt) nur neun Prozent - so wenig wie in keinem anderen EU-Land. Gleichzeitig ist nirgendwo in der Union der Mehrwertsteuersatz höher als in Ungarn, nämlich bei 27 Prozent. Das trifft die Geringverdiener hart. Daher besteht ein ermäßigter Tarif von fünf Prozent auf bestimmte Lebensmittel. Zu Beginn dieses Wahljahres wurde die Liste erweitert.
Den Rotstift setzt Orbán im Sozial- und Gesundheitswesen an. "Statt Stadien zu bauen, hätte die Regierung mehr in die Ausrüstung der Spitäler investieren sollen", meint Sándor Richter. Er verweist auf einen aktuellen Fall in einem Budapester Krankenhaus. Dort stehe seit Tagen der Aufzug außer Betrieb, Patienten müssten händisch die Treppen hinauf und hinunter geschleppt werden. Nicht nur nicht krank sollte man in Ungarn werden, sondern auch nicht arbeitslos: Die Unterstützung strich Orbán von neun auf drei Monate zusammen.