Hilfe vor Ort in Afrika soll Migration eindämmen, fordern Politiker. Doch das könnte das Gegenteil bewirken.
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Wien. Österreich liegt am Meer. Das könnte man in diesem Wahlkampf beinahe meinen. So heftig wird darum gestritten, wie das Mittelmeer künftig gesichert und überwacht werden soll. ÖVP-Spitzenkandidat und Außenminister Sebastian Kurz fordert die Schließung der Mittelmeerroute, wogegen Bundeskanzler Christian Kern eingewendet hat, dass das nicht so leicht möglich sein wird.
Doch so uneinig SPÖ und ÖVP auch sein mögen, was auf dem Mittelmeer zu geschehen hat, so einig sind sie sich darin, dass grundsätzlich etwas unternommen werden muss, damit sich Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern überhaupt nicht erst auf den Weg Richtung Mittelmeer machen, um nach Europa zu gelangen. Auf SPÖ-Seite haben Kern und Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil zudem einen Plan zur Eindämmung der Migration aus Afrika präsentiert, der etwa wirtschaftliche Hilfen für Afrika vorsieht, aber auch von Verfahrenszentren in der Region selbst, etwa im Niger, ist die Rede. Auf ÖVP-Seite ist wiederum von der "Hilfe vor Ort" die Rede.
Dass man die afrikanischen Länder bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützen muss - das ist auch auf Europaebene in der sonst so emotional und kontrovers geführten Debatte über Flucht und Migration zum kleinsten gemeinsamen Nenner geworden, auf den sich von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel bis hin zu Grünpolitikern fast alle einigen können.
Doch bei der Frage, wie die Ursachen von Flucht und Migration am besten bekämpft werden sollen, herrscht wieder Uneinigkeit - schließlich ist das Thema derart komplex, dass es keine einfachen Lösungen gibt.
Die Mittelschichtmacht sich auf den Weg
Die Gründe, warum Menschen auswandern, sind verschieden - wie allein schon ein Blick auf die Herkunftsländer derer zeigt, die via Mittelmeerroute 2016 und 2017 in Italien ankamen. Bis auf Bangladesch, woher 2017 die zweitmeisten Migranten kamen, handelt es sich ausschließlich um afrikanische Länder. Österreich war von dieser Zuwanderung übrigens nicht so stark betroffen. Knapp mehr als 2000 Afrikaner beantragten hierzulande im ersten Halbjahr 2017 Asyl.
Die Herkunftsländer der über das Mittelmeer nach Europa gelangten Auswanderer lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Einerseits handelt es sich um Diktaturen und autoritäre Regime wie Eritrea oder den Sudan. Die Menschen fliehen aus diesen Ländern meist wegen politischer Verfolgung. Andererseits sind darunter demokratisch regierte Staaten wie Nigeria, Senegal oder Cote d’Ivoire. Diese zählen auch noch zu den wirtschaftlich potentesten in Afrika. Doch wirtschaftliche Stärke ist relativ, und im globalen Vergleich hinken afrikanische Staaten immer noch massiv hinterher. Hinzu kommt, dass in all diesen Ländern aufgrund hoher Geburtenraten enorm viele junge Bürger auf den Arbeitsmarkt drängen und dieser nicht alle auffangen kann.
"Neben Perspektivlosigkeit vor Ort gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die dazu führen, dass sich die Leute auf die gefährliche Reise begeben", sagt der Sozialwissenschaftler Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Er forscht seit Jahren über Migrationsdynamiken. "Auf den Weg machen sich großteils Leute aus der unteren Mittelschicht, die eine Schule oder eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, einige besitzen sogar einen Studienabschluss. Nur sie sind auch tatsächlich in der Lage, bei ihren Verwandten oder anderen Netzwerken das notwendige Geld einzusammeln, um Schlepper zu bezahlen und sich auf die Reise zu machen."
Die Auswanderungswilligen wüssten dabei großteils durchaus Bescheid, wie gefährlich die Überfahrt nach Europa ist, erklärte bei einem Wien-Besuch der Kameruner François Roméo Ntamag, der eine Selbsthilfeorganisation für Flüchtlinge in Mali mitgegründet hat und in Frankreich als Konsulent für Migrationsfragen tätig ist. Auch machten sich die Auswanderer keine Illusionen darüber, was sie in Europa erwarten würde und dass sie zunächst ausgebeutet würden. "Aber wenn sie einmal die notwendigen Papiere haben, dann können sie vielleicht eine Ausbildung absolvieren und einen guten Job bekommen" so Ntamag. "Ihr Antrieb ist die Hoffnung."
Wie können nun Perspektiven vor Ort geschaffen werden, dass es erst gar nicht so weit kommt? Das ist in dieser Debatte die Gretchenfrage der europäischen Politik, die sich auch in Österreich niederschlägt. Immer wieder wird dabei - etwa hierzulande von den Grünen - gefordert, dass Europa für gerechte Handelsbeziehungen sorgen solle. Tatsächlich zerstört europäische Exportpolitik afrikanische Märkte. Noch immer verscherbelt zum Beispiel die europäische Geflügelindustrie ihre Überkapazitäten in Afrika. Die Billigimporte graben afrikanischen Bauern das Wasser ab.
Dass diese Handelspraktiken zum Anstieg der Migration beitragen, will Schraven nicht ausschließen. Allerdings: Die Betroffenen, deren Geschäfte dadurch zerstört sind, etwa Geflügelhändler aus Ghana, sind selten diejenigen, die nach Europa kommen. "Das sind kaum die Bevölkerungsgruppen, die das notwendige Kapital mobilisieren können." Es gehe hier also mehr um "verweigerte Entwicklung" für afrikanische Länder als um Migration.
Bessere Ausbildung,Wunsch nach besserem Leben
Ein weiterer Vorschlag, der durch Europa geistert, ist ein Marshallplan für Afrika. Hierzulande haben dies SPÖ und ÖVP ventiliert, die deutsche Regierung verfolgt diesen Plan schon konkret. So hat Deutschland im Rahmen seiner Präsidentschaft der G20, der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, die Initiative "Compact with Africa" gestartet. Diese funktioniert nicht ganz so wie der historische Marshallplan, nimmt aber Anleihen an ihm. Die Initiative soll afrikanische Staaten dabei unterstützen, mehr private Investoren anzulocken, was wiederum die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben soll.
Derartige Programme können laut Fachleuten für einen Entwicklungsschub in breiten Teilen der Bevölkerung sorgen - wenn dabei soziale Aspekte berücksichtigt werden und etwa auch in Bildung investiert wird. Und wenn die EU nicht mit der einen Hand zerstört, was sie mit der anderen aufbaut. So hat es etwa keinen Sinn, die afrikanische Landwirtschaft zu modernisieren, wenn diese erst wieder durch europäische Billigexporte vernichtet wird.
Nach Meinung von Experten können solche Initiativen einen Effekt haben, über den in der Politik derzeit nicht diskutiert wird. "Wirtschaftlicher Aufschwung kann mehr Auswanderung bedeuten", sagt Leonard Doyle, Sprecher der "Internationalen Organisation für Migration". Wenn mehr Menschen besser ausgebildet sind, steigert das auch den Wunsch, woanders sein Leben zu verbessern.
Ein Befund, den auch Schraven bestätigt. Eine gewisse wirtschaftliche Basis schaffe erst die Möglichkeit auszuwandern. In verschiedenen Regionen habe sich gezeigt, dass die Migrationsraten nach oben gehen, wenn die Wirtschaft in Gang kommt, und erst zurückgehen, wenn Menschen ein gewisses Einkommenslevel erreicht haben. Das bedeutet für Afrika: Aus wohlhabenderen Ländern wie etwa Cote d’Ivoire wird die Migration in die Industrieländer weitergehen, bis ein gewisses Niveau erreicht ist. Und aus ärmeren Ländern wie Burkina Faso und Niger, aus denen es schon viel Abwanderung in die Nachbarländer gibt, könnte die Migration Richtung Europa erst einsetzen, wenn es ihnen besser geht.
"Es würden sich aber nicht Millionen Menschen über die Sahara und das Mittelmeer auf den Weg machen", betont Schraven. Denn mit steigendem Wohlstand steige auch das Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit, die auf der Mittelmeerroute nicht gegeben ist. Vielmehr würde eher bei vielen Menschen der Wunsch größer werden, regulär zu emigrieren.
Das Problem ist aber: Im Moment gibt es fast keine Möglichkeiten, legal nach Europa zu kommen, was dann doch viele Afrikaner die gefährliche Querung des Mittelmeers riskieren lässt. "Wir Europäer sollten uns Gedanken über die Möglichkeit machen, die reguläre Einwanderung zu verbreitern", sagt Schraven. Auch andere Experten plädieren hier für die gezielte Vergabe von Visa oder einem System ähnlich der Green Card in den USA. Das würde nicht nur Druck vom Mittelmeer nehmen, sondern könnte auch entwicklungspolitisch sinnvoll sein - in Form von Wissens- und Geldtransfers der Auswanderer in ihre Heimatländer.
Insgesamt scheint aber, dass in der poltischen Debatte, die in Europa über Afrika geführt wird, Armutsbekämpfung und Migration zu sehr vermengt werden. Dass afrikanische Länder bessere Entwicklungschancen haben sollen, gehört zum Selbstverständnis der Union. Doch die Erwartung, dass damit auch die Migration eingeschränkt wird, könnte sich, zumindest im ersten Schritt, als trügerisch erweisen und ist eine sehr langfristige Perspektive. Deshalb sollte vielleicht eine Lösung dieses Problems zunächst mehr in der Migrations- und Asylpolitik selbst anstatt über den Umweg der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik gesucht werden.
Ohne EU ist Österreichin dieser Frage hilflos
In diese Richtung gehen etwa die Ideen des Österreichers Gerald Knaus, der als Vater des EU-Türkei-Deals gilt. Mit seiner Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" fordert er Asylmissionen an Europas Südgrenze, die schnell und qualitätsvoll Asylverfahren durchführen können. Gleichzeitig brauche es Rücknahmeabkommen, besonders mit westafrikanischen Staaten wie Nigeria oder Senegal - bei gleichzeitiger Verpflichtung der EU, einige tausend Leute aus Afrika pro Jahr legal aufzunehmen. Knaus erwartet, dass durch so ein System die Zahl der Flüchtlinge und Migranten deutlich sinken würde.
Doch welche EU-Staaten sollen die Afrikaner aufnehmen? Werden solche Asylmissionen überhaupt vom Großteil der EU-Staaten unterstützt? An diesem Thema beißt sich die EU schon seit Jahren die Zähne aus. Klar ist aber auch: All die Vorschläge und Ideen - von einem Marshallplan bis zum künftigen Umgang mit der Mittelmeerroute -, die im österreichischen Wahlkampf auftauchen, haben nur auf EU-Ebene Chance auf Verwirklichung. Alleine kann Österreich fast gar nichts ausrichten.