Hunderttausende gingen im Irak auf die Straßen. Die Demonstranten fühlen sich wie im Libanon um ihre Chancen gebracht.
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Abu Bakr al-Bagdadi ist tatsächlich tot. Nach vielen Ungereimtheiten und berechtigten Zweifeln an der Darstellung von US-Präsident Donald Trump, haben jetzt Kämpfer seiner Terrororganisation das Ende ihres Chefs bestätigt und auch gleich einen Nachfolger bestimmt. Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi werde die Aufgabe übernehmen, teilte der IS per Audio-Botschaft mit. Über seinen Medienkanal Al-Furkan bestätigte der "Islamische Staat" zunächst den Tod seines Anführers Bagdadi sowie den Tod eines weiteren ranghohen Mitglieds, Abu al-Hassan al-Muhadschir aus Saudi-Arabien.
Über den neuen Anführer ist noch nicht viel bekannt. Er stammt wie Bagdadi aus dem Irak, gehört sowohl dem Stamm der Kuraischi, als auch dem Stamm der Haschimi an. Beide Stämme sind über die Grenzen des Irak hinaus beheimatet und haben auch persische Wurzeln. Der al-Haschimi Stamm ist einer der größten Stämme Iraks und besonders in der Provinz Anbar, nordwestlich von Bagdad vertreten. Dort hatte zunächst Al-Kaida, dann der IS seine Hochburg. Die Terrororganisation beschreibt ihren neuen Chef als erfahrenen Kommandeur und Gelehrten, der bereits gegen US-Truppen gekämpft habe, was darauf hindeutet, dass Abu Ibrahim wahrscheinlich aus Anbar kommt. Denn dort war der Widerstand gegen die US-Besatzer am heftigsten, von dort breitete er sich auf das ganze Land aus. Falludscha, größte Stadt in der Provinz Anbar, wurde von 2003 bis 2011 zum Inferno für die US-Truppen.
Dramatische Umwälzung
Doch der Tod al-Bagdadis und die Ernennung seines Nachfolgers spielen bei den derzeitigen Unruhen im Nahen Osten eine eher untergeordnete Rolle. Will man eine Verbindung zwischen den Demonstrationen im Libanon, im Irak, in Ägypten und in Algerien herstellen, dann höchstens die Tatsache, dass die gesamte Region einer dramatischen Umwälzung unterworfen ist, zu der auch der Terror des IS beigetragen hat. Sein Stern und der des Kalifats ist untergegangen, islamischer Extremismus und die Ideologie der Gewalt leben weiter. In Bagdad und Beirut reagiert man deshalb verwundert, welchen Stellenwert US-Präsident Donald Trump der Tötung Bagdadis beimisst und sie als persönlichen Triumph feiert. Das werde der Sache nicht gerecht, hört man vor allem junge Iraker sagen: "Wir haben den IS besiegt und nicht die!"
Bei den Aufständen in den vier Ländern geht es vor allem um die Zukunft der mehrheitlich jungen Bevölkerung, die sich um ihre Chancen und Möglichkeiten von den Alten betrogen fühlt. Am Freitag kam es in Bagdad zur größten Demonstration seit dem Sturz Saddam Husseins vor 16 Jahren. Und auch in Algerien gingen tausende Menschen auf die Straßen. Eigentlich sollte dem Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich gedacht werden. Viele nutzten den Anlass, um gegen die neue, vom Militär gestellte Regierung zu protestieren.
"Was, schon so lange waren Sie nicht mehr hier", stellt der Passkontrolleur bei der Einreise am Flughafen in Beirut fest. "Acht Jahre ist eine lange Zeit, aber ich kann Sie beruhigen, es hat sich nichts verändert."
Was der junge Beamte damit meint, erfährt man schnell beim Gespräch im Taxi. "Es geht so weiter, als ob nichts passiert ist", umreißt der Fahrer die momentane Situation. Und die zweiwöchigen Proteste, der Rücktritt des Premiers und der Regierung? "Alles schon x-mal dagewesen", kommentiert er sichtlich genervt. Hariri bleibe doch im Amt, bis ein neuer Premier sich abzeichnet und eine neue Regierung bildet. "Das kann lange dauern." An eine wirkliche Veränderung glaubt der Taxifahrer in Beirut nicht.
Es ist nicht das erste Mal, dass Saad Hariri zurücktritt. Vor zehn Jahren begann seine erste Amtszeit als Premierminister, vier Jahre, nachdem sein Vater im Februar 2005 durch einen Bombenanschlag getötet wurde. Nach nur zwei Jahren zerbrach die Regierung des Sohnes wieder. Das UN-Sondertribunal kam zu dem Schluss, dass hochrangige Mitglieder der Schiitenmiliz Hisbollah sowie Politiker der Schutzmacht Syrien an dem Attentat beteiligt waren. Aus Protest verließen die Minister der Hisbollah die Regierung. Hariri ging ins Ausland und sah zu, wie sein Land politisch gelähmt blieb.
"Doch Krise bedeutet für uns nicht das Ende der Welt", kommentiert ein Student der amerikanischen Universität Beirut die Stimmung im kleinen Land am Mittelmeer gegenüber der "Wiener Zeitung". "Wir sind krisenresistent." Zwischen 2014 und 2016 scheitern insgesamt 45 Versuche, einen Staatspräsidenten zu wählen. Hariri kehrt zurück und überzeugt seine Zukunftspartei, den von Syrien und der Hisbollah unterstützten, christlichen Präsidentschaftskandidaten Michel Aoun zu billigen, um dann selbst erneut als Premier ernannt zu werden.
Im saudi-arabischen Riad erklärt Hariri am 4. November 2017 seinen zweiten Rücktritt, um dann auf französische Intervention hin nach acht Wochen in sein Land zurückzukehren und den Rücktritt vom Rücktritt zu verkünden. Der Coup wird Saudi Arabien zur Last gelegt, das einen Keil zwischen den sunnitischen Premier und der mitregierenden schiitischen Hisbollah treiben wollte.
Nun also der dritte Rücktritt Hariris auf Druck der Straße. Das kleine Mittelmeerland mit rund sechs Millionen Einwohnern kämpft mit einer Wirtschafts- und Finanzkrise und leidet unter dem Krieg im benachbarten Syrien. Die Staatsverschuldung liegt bei 86 Milliarden US-Dollar (gut 77 Milliarden Euro), was einer Quote von etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Es ist eine der höchsten Schuldenquoten weltweit. Kritiker werfen der Regierung vor, Reformen über Jahre verschleppt zu haben. Im politischen System des Libanon sind die Spitzenposten unter den wichtigsten Religionsgruppen aufgeteilt. So ist der Präsident ein Christ, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Dem ein Ende zu bereiten, ist eine weitere Forderung der Protestbewegung.
Verblüffende Parallele
Die Parallele zum Irak ist verblüffend. Fast 1000 Kilometer von Beirut entfernt, gehen Hunderttausende in Bagdad und weiter südlich auf die Straßen mit haargenau denselben Anliegen und Forderungen. Und wie in Beirut, so ist auch in Bagdad Premierminister Adel Abdul Mahdi bereit, seinen Stuhl zu räumen, sobald ein Nachfolger gefunden werde.
Auch hier sind Zweifel angebracht, ob dies baldmöglichst geschieht. Im Gegensatz zum Libanon, dem krisenerprobten Levantestaat, sind im Irak derartige Demonstrationen neu. Entsprechend unbeholfen gehen Sicherheitskräfte und Regierung damit um.
Während anfangs noch die eiserne Faust ausgefahren wurde und ähnlich wie in Ägypten die Protestierer mit Gewalt zur Aufgabe gezwungen werden sollten, herrscht jetzt bei ansteigenden Demonstrantenzahlen und öffentlichen Appellen an die Regierung zur Mäßigung Ratlosigkeit. Es ist von Neuwahlen die Rede.
In Ägypten sind die Proteste schnell abgeebbt, im Libanon und Irak hartnäckiger geworden, denn die politische Dimension ist weitaus brisanter. In Ägypten leben zu 90 Prozent arabische Sunniten und etwa zehn Prozent Christen. Libanon und Irak hingegen sind Vielvölkerstaaten, deren Machtaufteilung einem Proporz zugrunde liegt, der anfangs zwar gut gemeint, sich auf die Dauer aber als sehr hinderlich für die politische Entwicklung der Länder erweist.
Im Libanon liegt der Schlüssel zur Machtverteilung im 15 Jahre währenden Bürgerkrieg begründet, dem Irak wurde nach dem Sturz Saddam Husseins die neue Ordnung zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden von den Amerikanern quasi übergestülpt. Raja Khuzai, die von US-Administrator Paul Bremer 2003 in den ersten Regierungsrat berufen wurde, stellte mit Verwunderung fest, dass der Amerikaner sie berufen habe, "weil ich Schiitin bin". Darüber habe sie all die Jahre zuvor nie nachgedacht.
Offene Tür für den Iran
Doch das wurde dem neuen Irak zum Verhängnis. Plötzlich gab es Sunniten, Schiiten und Kurden und keine Iraker mehr. Ein Bürgerkrieg zwischen Ethnien und Religionen war die Folge. Denn wenn alle an der Regierung beteiligt sind und es keine Opposition gibt, wer kontrolliert dann die Macht? Wenn jeder ein Stück vom Kuchen bekommt, wachsen Habgier und Vetternwirtschaft und der Einflussnahme von außen wird Tür und Tor geöffnet.
Durch diese offene Tür ist der Iran gegangen - im Libanon wie im Irak. Sein Machtbereich hat sich in den letzten Jahren grundlegend erweitert. Ohne den Iran geht im Libanon nichts mehr und im Irak auch nicht. Deshalb werden bei den Protesten in Beirut und in Bagdad Transparente getragen, die eine Einmischung fremder Staaten in die Politik verurteilen. Hier bekommt die Parole "Ausländer raus" eine andere Dimension als in Europa.