Japans neue Militärdoktrin erlaubt erstmals Kampfeinsätze im Ausland - im Inland ist sie umstritten.
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Tokio. Wie ein Rapper brüllt der junge Japaner ins Mikrofon: "Abe, tritt zurück, tritt zurück!" Tausende Menschen, jung und alt, rufen seine Worte im gleichen Rhythmus nach. Ihre Stimmen, begleitet von Trommelschlägen, hallen durch die schwüle Sommerabendstimmung in Tokio. Eingepfercht von einer auffälligen Übermacht an Polizei stehen sie gedrängt auf den Gehsteigen, die Straßen sind gesperrt. Zwischen den Sprechchören melden sich Studenten und Oppositionspolitiker zu Wort. "Lasst uns Japan vor Abe beschützen", ruft ein junger Sprecher. Es ist die Replik darauf, dass Ministerpräsident Shinzo Abedieser Tage unermüdlich betont, mit den neuen Verteidigungsgesetzen Japan sicherer zu machen.
Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt hingegen, dass Abe mit der neuen Militärdoktrin Japan zum Ziel von Terrorismus machen und Kriege und bewaffnete Konflikte verwickeln könnte. Werden die von Experten weithin als verfassungswidrig bewerteten Gesetze verabschiedet, würden sie erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs erlauben, dass Japans Selbstverteidigungsstreitkräfte mit Waffen ihren Verbündeten, vor allem den USA, zu Hilfe kommen dürften. Das war bisher nicht möglich. Denn in Artikel 9 der Verfassung, die 1947 in Kraft trat, verzichtet Japan auf das Recht, Waffen zu benutzen und Krieg zu führen.
Das Unterhaus hatte am Donnerstagnachmittag das umstrittene Gesetz verabschiedet. Die Abstimmung kam ein Jahr, nachdem die Regierung Abes beschlossen hatte, dass es die Verfassung erlaubt, dass Japan die sogenannte "Kollektive Selbstverteidigung" ausübt. Darunter wird verstanden, dass das Land Allianzpartnern, in erster Linie den USA, militärisch beistehen kann, selbst wenn Japan selber nicht angegriffen wird. Bisherige Regierungen hatten Artikel 9 der Verfassung immer so interpretiert, dass dies nicht zulässig sei. Dieser "Pazifismus-Artikel" findet in der Bevölkerung breiten Anklang. Viele Japaner sind stolz auf ihre Friedenstradition, die seit fast 70 Jahren besteht. Das spiegelte sich auch an den Plakaten der Demonstranten wieder: "Zerstört nicht Artikel 9!", stand auf diesen.
Die Opposition boykottierte die Abstimmung, weil sie diese als verfrüht ansah. Doch die Liberaldemokratische Partei (LDP) von Premier Abe hält mit ihrer Koalition im Unterhaus eine komfortable Mehrheit und drückte das Gesetz durch. Darum kommt es nun vor das Oberhaus. Fällt dieses innerhalb von 60 Tagen keine Entscheidung, was die Opposition mit Verzögerungstaktik versuchen könnte, so geht der Antrag zurück ans Unterhaus. Dieses kann dann in einer zweiten Abstimmung das Gesetz verabschieden. Die nötige Mehrheit liegt bei zwei Dritteln - ein zwar ambitioniertes, aber erreichbares Ziel, da die Regierungskoalition die nötigen Sitze hält.
Mit der Abstimmung setzt Abe sein politisches Kapital aufs Spiel. Seine Zustimmungsraten sind in den letzten Wochen stark gesunken. Erstmals in seiner Amtszeit lehnen mehr Bürger seine Amtsführung ab als ihr zustimmen. Auch sind rund zwei Drittel der Bevölkerung gegen das Verteidigungsgesetz. 10.000 Wissenschaftler haben eine Petition dagegen unterschrieben, weil sie es für verfassungswidrig halten. Sie stützen sich auf die Einschätzung von bekannten Verfassungsrechtlern. Sogar ein von der Regierung selbst ausgewählter Experte kam im Parlament zum Schluss, dass die Neuinterpretation der Verfassung, die Grundlage für das aktuelle Gesetz ist, der Verfassung widerspreche. Am liebsten würde Abe die Verfassung ändern, um die Schranken für Japans Militär vollständig aufzuheben. Doch die Hürden dafür sind hoch.
Aus Washington hingegen erhält Abe breite Zustimmung. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die USA dazu verpflichtet, im Angriffsfall Japan zu verteidigen. Doch die Amerikaner wollen seit langem, dass Tokio einen größeren Teil der Landesverteidigung selber übernimmt, auch aus Kostengründen.
Die Demonstranten interessieren Abes Argumente nicht. "Lasst uns unser Kinder beschützen", rufen sie. Sie haben Angst, dass, sobald diese Verteidigungsgesetze einmal abgesegnet sind, die Wehrpflicht eingeführt werden könnte. Vor allem die Art und Weise, wie Abe die Gesetze durchzieht und dabei Artikel neun versucht zu umgehen, bereitet dieser Tage vielen Japanern Sorge. Nicht wenige sehen Japans Demokratie in Gefahr. Der Vergleich mit Deutschland unmittelbar vor dem Nazi-Regime liegt für viele nahe. Manche Plakate zeigen Abe im Hitler-Stil. "Wir müssen zumindest unsere Stimme erheben", sagt der 19-jährige Demonstrant Mugita Tobujima. "Blieben wir stumm, würde das bedeuten, dass wir aufgeben."