Erstmals seit dem EU-Referendum melden sich die Pro-Europäer in der britischen Politik und Wirtschaft zu Wort.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London. Gegen eine komplette Abkoppelung des Vereinigten Königreichs von der EU, wie sie die britische Premierministerin Theresa May auf ihrem Konservativen Parteitag vorige Woche in Aussicht stellte, beginnt sich nun in London erstmals auf breiter Basis Widerstand zu formieren. Am Wochenende verhandelten Labour-Politiker, Liberaldemokraten, Grüne und schottische Nationalisten mit pro-europäischen Tories darüber, wie durch Einschaltung des Parlaments ein "harter Brexit" verhindert werden kann.
Eine Gruppe von "Rebellen" will die Regierungschefin außerdem per Gerichtsbeschluss davon abhalten, die britische EU-Mitgliedschaft im kommenden Jahr quasi im Alleingang aufzukündigen. Eine solche schwerwiegende Entscheidung könne ebenfalls nur das Parlament treffen, so das Argument. Die Sache kommt diese Woche in London vor den High Court, wird aber wohl letztlich gegen Ende des Jahres vom Supreme Court, dem höchsten Gericht des Landes, entschieden werden.
Ein Sprecher Mays wiederholte jedenfalls am Montag, was die Regierung von einer Abstimmung im Parlament über den EU-Austritt hält: "Eine zweite Abstimmung oder eine Abstimmung als Kritik am Volkswillen ist kein akzeptabler Weg."
Pro-Europäer von harschem Ton aus EU aufgeschreckt
Gleichzeitig haben am Wochenende einige der einflussreichsten Wirtschaftsverbände der Insel Premierministerin May in einem offenen Brief aufgefordert, einen Abgang aus Binnenmarkt und Zollunion der EU "unter allen Umständen" zu vermeiden. Für die heimische Wirtschaft, für Jobs und für künftige Investitionen würde ein solcher "harter" Brexit "katastrophale Folgen" haben, warnen die vom Industriellenverband CBI geführten Organisationen. Nicht zuletzt der anhaltende Wertverfall des Pfundes und der noch immer unerklärte "Flash Crash" der britischen Währung in der Nacht auf Freitag haben Geschäftswelt und Märkte nervös gemacht und zunehmend pessimistisch gestimmt. Die City of London, das britische Finanzzentrum, befürchtet, dass im Falle eines "harten Brexit" traditionell an der Themse angesiedelte Finanzinstitutionen wichtige Teile ihrer Geschäftstätigkeit auf den Kontinent verlagern.
Aufgeschreckt hat Großbritanniens Pro-Europäer vor allem der neue harsche Ton aus Paris, Brüssel und Berlin zu Ende letzter Woche - nachdem May angekündigt hatte, die Einschränkung der Personenfreizügigkeit habe bei den kommenden Austrittsverhandlungen Vorrang für sie.
Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte erklärt, freien Zugang zum Binnenmarkt ohne Freizügigkeit werde es nicht geben. Und François Hollande hatte den Briten sogar angedroht, ihre Politik werde sie teuer zu stehen kommen. Mehrere prominente pro-europäische Tory-Abgeordnete wollen nun zusammen mit Parlamentariern der Oppositionsparteien die Regierung zum Einlenken zwingen. Eilanfragen im Unterhaus sind geplant, sobald es am Montag nach der Parteitags-Pause wieder zusammen tritt.
Ex-Vizepremier Nick Clegg etwa, neuerdings Brexit-Sprecher der Liberaldemokraten, hält es für "ganz und gar nicht akzeptabel, dass es der Exekutive allein zusteht, über die Art unseres Austritts zu befinden". Eine so ernste und folgenreiche Entscheidung sei Sache des Parlaments in Westminster. Der frühere Labour-Vorsitzende Ed Miliband fände es "echt empörend, würde May über die Brexit-Bedingungen ohne parlamentarisches Mandat entscheiden - nachdem sie zuvor behauptete, beim Referendum sei es um Rückgabe von Souveränität an Großbritannien gegangen".
"Wir sagen Ja zum Binnenmarkt"
In der Tat sah das Wahlprogramm der Konservativen vor den Unterhauswahlen von 2015 zwar ein Ja-Nein-Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft vor. Von einem Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion war aber nicht die Rede. Stattdessen hieß es: "Wir sagen Ja zum Binnenmarkt." Die Tories würden die Interessen des Landes zu wahren wissen - innerhalb des EU-Binnenmarkts, nicht außerhalb.
Widerstand gegen einen "harten Brexit" wird indes auch aus Nordirland und Schottland gemeldet, wo die Mehrheiten gegen den Brexit stimmten. In Belfast sind mehrere Parteien gemeinsam vor Gericht gezogen, weil sie von einem solchen Brexit den britisch-irischen Friedensvertrag von 1998 - das sogenannte Karfreitags-Abkommen - verletzt sehen. In Edinburgh erwägt die von der Schottischen Nationalpartei (SNP) gestellte schottische Regierung, die von May geplante Abkoppelung Großbritanniens von der EU mit einem Veto zu blockieren, was zu einem Verfassungskonflikt führen würde.