Sunniten laden Schiiten und Kurden ein, sich Protesten anzuschließen.
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Bagdad. In wenigen Monaten jährt sich der Sturz des Regimes von Saddam Hussein zum zehnten Mal. Zum Feiern ist den Irakern aber nicht zumute. Im Gegenteil, die Lage im Land zwischen Euphrat und Tigris spitzt sich zu. Am Freitag erreichten seit einer Woche andauernde Proteste ihren vorläufigen Höhepunkt. Laut Reuters gingen alleine in Fallujah mehr als 60.000 Menschen auf die Straße und forderten den Rücktritt des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, der in den letzten Monaten diktatorengleich versuchte, alle Macht auf sich zu vereinen. Die großteils sunnitischen Demonstranten fordern ein Ende der Diskriminierung der sunnitischen Minderheit und eine gerechtere Machtverteilung im Land.
Die Demonstrationen, die bisher friedlich verliefen, nahmen ihren Ausgang in der sunnitisch-dominierten westirakischen Provinz Anbar. Auslöser war die Festnahme von neun Wachen des sunnitischen Finanzministers Rafia Issawi: Sicherheitskräfte, die Maliki unterstellt sind, stürmten das Büro und die Residenz von Issawi in Bagdad und nahmen dort seine Mitarbeiter fest. Den Verhafteten wird vorgeworfen, in Terroranschläge verwickelt zu sein.
Auch wenn Maliki betonte, die Razzia und die Festnahmen seien eine rein juristische Angelegenheit und dienten der Bekämpfung des Terrorismus im Land, sehen nicht nur Sunniten darin einen politischen Schachzug. Denn: Der Vorwurf der Verwicklung in terroristische Anschläge ist ein von Maliki bereits zuvor genutztes Instrument, um politische Gegner loszuwerden. Ausgehend von denselben Anschuldigungen wurden etwa bereits Leibwachen des sunnitischen stellvertretenden Präsidenten Tarik al-Hashemi sowie der Vizepräsident selbst von irakischen Gerichten zum Tode verurteilt. Hashemi war gezwungen, sich in die Türkei abzusetzen.
Angst vor Bürgerkrieg
Indes bemühten sich die politischen Führer des Landes, den Demonstrationen keinen bestimmten konfessionellen Anstrich zu verleihen. Allen ist bewusst, dass eine derartige Eskalation den Weg in einen weiteren Bürgerkrieg ebnen könnte. Finanzminister Issawi betonte bei einer Rede vor Demonstranten in Ramadi, dass die Proteste den gesamten Irak repräsenterieren würden und nicht auf sektiererische Belange begründet seien. Auch der Imam der Provinz Anbar stieß in das gleiche Horn: Die im Irak herrschende Ungerechtigkeit beträfe nicht nur die Sunniten.
Wie breit die Koalition der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppierungen gegen den Premierminister sein wird, ist offen. Bisher drückte der einflussreiche schiitische Kleriker und Milizenführer Muktada al-Sadr seine Unterstützung für die Proteste aus - auch er verstehe die Ablehnung von "Korruption und Diktatur". Eine starke sunnitisch-kurdisch-sadr’sche Kooperation im Parlament, in dem Maliki mit der Fraktion "Nationales Bündnis" die Mehrheit hält, wäre nötig, um dem Ministerpräsidenten das Vertrauen zu entziehen.
Davon ist man - noch - weit entfernt. Analysten zufolge aber tut sich Maliki mit der Verfolgung politischer Gegner und der Instrumentalisierung der Justiz für politische Zwecke selbst keinen Gefallen. Der jetzige Aufstand der Sunniten eröffnet neben dem Konflikt mit dem autonomen Kurden im Norden um die interne Grenzziehung und die Ölvorkommen eine zweite innenpolitische "Front", an der er zu kämpfen hat.
Die politisch motivierten Verhaftungen könnten somit Malikis stärkste politische Gegner einen. Zudem fehlt der für die innerirakische Versöhnung wichtigste Akteur: Der Präsident, Jalal Talabani, liegt nach seinem Schlaganfall vor zehn Tagen nach wie vor im Krankenhaus in Deutschland.