Auf Putin wartet das Premiersamt - die Machtübergabe ist nicht ohne Risiko. | Die Opposition ist von der Wahl ausgeschlossen. | Moskau/Wien. Russland ist im Wahlkampffieber. Die staatlichen Fernsehsender berichten ausführlich. Welcher Präsident wird die Großmacht in den kommenden vier Jahren lenken? Wird es Barack Obama sein oder doch Hillary Clinton? Vielleicht am Ende gar John McCain?
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Dass die US-Wahlen bei den Russen auf weitaus größeres Interesse stoßen als die eigenen, ist nicht verwunderlich: Anders als in Putins Reich versprechen sie beim alten Erzfeind durchaus spannend zu werden.
Auch in Russland hätten sich die meisten, unter ihnen selbst viele Regimetreue, einen demokratischen Wettbewerb um das höchste Staatsamt gewünscht. Oder zumindest TV-Wahlkampfdebatten. Doch die alte KGB-Garde, die mit Wladimir Putin wieder zu Ehren und - anders als noch zu Sowjetzeiten - durch mafiöse Machenschaften und hohe Ölpreise zu gigantischem Reichtum gelangt ist, denkt nicht daran, ihre Macht wieder aufs Spiel zu setzen.
Wenn das Volk am Sonntag zu den Wahlurnen schreitet, steht das Ergebnis schon fest. Allenfalls die Frage, wie triumphal der Sieg von Dmitri Medwedew gegenüber den drei Alibi-Herausforderern ausfällt, wird die Menschen in der Wahlnacht vor die Bildschirme locken.
Regimekritische russische Analysten vermuten, dass die Kremlstrategen auch in punkto Wahlausgang nichts dem Zufall überlassen. Denn es steht eine inszenierte, aber nichtsdestoweniger brisante Machtübergabe bevor.
Wladimir Putin, der nach zwei Amtsperioden das Präsidentenamt räumen muss, will unter seinem auserkorenen Nachfolger, Vizepremier Medwedew, nach dessen Amtsantritt Anfang Mai das Ministerpräsidentenamt leiten - und vor dort aus weiter die Fäden ziehen. Als Regierungschef wird er jedoch gemäß der Verfassung fast keine Entscheidungsbefugnisse mehr haben, diese liegen beim Kremlchef. Dieser kann den Premier auch jederzeit feuern. In diesem "Tango fatal" kann Putin daher nur Kraft seiner Autorität den Anspruch auf die künftige Führungshoheit verteidigen.
Kremlastrologen bezweifeln daher, dass Medwedew am Sonntag populärer sein wird dürfen als Putin bei der Parlamentswahl drei Monate zuvor. Damals hatte er als Spitzenkandidat für Einiges Russland 64,3 Prozent herausgeholt.
Umfragen sehen Medwedew zwischen 63 und 73 Prozent. Gennadi Sjuganow, Chef der Kommunistischen Partei und einziger Oppositionskandidat, der zur Abstimmung zugelassen wurde, kann laut dem Meinungsforschungsinstitut Wziom mit 15 Prozent Zustimmung rechnen. Drittplatzierter ist der rechtsgerichtete Ultranationalist Wladimir Schirinowski mit 10,9 Prozent. Der Vorsitzende der vom Kreml geschaffenen "Demokratischen Partei", Andrej Bogdanow, kommt auf ein Prozent.
Der weitgehend unbekannte 38-Jährige mit der Hippiefrisur, der als Wahlgag für den EU-Beitritt Russlands eintritt, kandidiert nur, weil die Wahlstrategen im Kreml es verlangten. Dort hatte man befürchtet, Sjuganow und Schirinowski könnten aus Protest gegen die unfaire Wahlkampf-Berichterstattung ihre Kandidatur im letzten Moment zurückziehen und damit die "Operation Thronfolge" zum Scheitern bringen.
Laut der noch aus der Jelzin-Ära stammenden Verfassung müssen mindestens zwei Bewerber sein, damit die Wahl gültig ist. Sonst muss die Wahl neu ausgeschrieben werden, wobei keiner der bisherigen Kandidaten wieder antreten darf.
Misstrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Die demokratischen Oppositionskandidaten sind am Wahlsonntag erst gar nicht zugelassen. Die Kandidatur von Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow, einem der schärften Putin-Kritiker, scheiterte daran, dass die Sicherheitsdienste sein Nominierungskomitee nicht zusammentreten ließen. Ex-Premier Michail Kasjanow ist draußen, weil von den zwei Millionen Unterstützungsunterschriften - die neuerdings alle Kandidaten vorweisen müssen, deren Parteien nicht im Parlament vertreten sind - angeblich mehr als erlaubte fünf Prozent ungültig gewesen sind. Und Boris Nemzow, Ex-Vizepremier unter Putins Vorgänger Boris Jelzin, zog aus Protest gegen die "Wahlfarce" seine Kandidatur gleich freiwillig zurück. Das Präsidialamt betreibe Wahlkampf im Stile von Nazi-Propaganda-Chef Joseph Goebbels und hetze die Verwaltung und die Justiz auf die Kritiker, um sie mundtot zu machen; unter diesen Bedingungen sei ein Weitermachen sinnlos, klagte Nemzow.
Viele Vertreter der Intelligenzia solidarisierten sich und erklärten öffentlich ihren Wahlboykott. So auch der Schrifsteller Wladimir Sorokin, der nur noch von einer Sonntags-"Veranstaltung" spricht.
Böse Überraschungen sind am Wahltag ausgeschlossen. Ob der Machttransfer von Putin zu Medwedew danach ebenso reibungslos über die Bühne gehen wird, darüber zerbrechen sich Russlands Politexperten schon seit Monaten den Kopf. "Zumindest in der ersten Übergangsphase, ein Jahr oder länger, wird Putin wohl die Fäden ziehen", glaubt Lilia Schewzowa vom Moskauer Carnegie Center. Medwedew werde bei dieser Tandem-Vorstellung nur formal das mächtige Präsidentenamt ausüben. "Doch irgendwann wird einer der Boss sein müssen". Und dies werde unweigerlich zu Grabenkämpfen führen - "nicht unbedingt zwischen den beiden Politikern" - die einander seit 16 Jahren kennen und bereits in der Petersburger (damals noch Leningrader) Stadtverwaltung miteinander gearbeitetet haben -, "aber zwischen den einzelnen Machtgruppen im Kreml", meinte sie jüngst bei einem Vortrag in Wien.
Dieser Machtkampf forderte auch bereits erste Opfer. Vor allem die mächtigen Geheimdienst-Clans, die es sich in Putins achtjähriger Amtszeit in den Ministerämtern und Chefetagen der Staatskonzerne bequem machen konnten, und über deren Pfründen er stets seine schützende Hand hielt, verteidigen verbissen ihre Einflusssphären mit gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, Verhaftungen und wohl noch Schlimmerem.
Ein Fall, der auch in den internationalen Medien für Aufsehen sorgte, war der Hahnenkampf zwischen dem Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB und der Führung der Anti-Drogen-Behörde, der fast in einer Schießerei auf dem Moskauer Flughafen geendet hätte.
Eine One-man-show ohne Schleudersitz
Putin wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Laut Verfassung stehe Medwedew als künftigem Präsidenten "automatisch alle Macht zu", erklärt der russische Politikanalyst Alexander Golz. "Aber Putin hat ein sehr spezifischesSystem errichtet. Darin steht dem Staatschef nicht per se Autorität zu, sondern Putin persönlich, weil er als einziger die Clans unter Kontrolle halten kann", meint Golz im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Ursprünglich habe Putin gar kein Amt mehr angestrebt. "Er wollte weg - bis er plötzlich verstanden hat, dass er nicht kann, weil es zu gefährlich ist - für ihn selbst und für die Silowiki."
Mit Medwedew entschied sich der Kremlchef schließlich "für den schwächsten aller potentiellen Nachfolger, damit er auch als Regierungschef die Nummer eins bleiben kann". Dass diese Rollenverteilung funktionieren wird, hält auch Golz mit Hinweis auf die Clan-Rivalitäten für unwahrscheinlich. Selbst wenn Medwedew, der nicht aus dem Geheimdienst-Lager stammt und kaum über eine eigene Hausmacht verfügt, persönlich die Spielregeln akzeptieren würde: "werden all die Burschen rund um ihn und um Putin die Regeln ebenfalls akzeptieren?", fragt Golz. Und gibt sich selbst gleich die Antwort: "Wissen kann es niemand."
Sollte Wladimir Putins Strategie aufgehen, hat er dafür gleich doppelt gewonnen. Medwedew würde ihm dann den Sessel warm halten. Wenn die Silowiki den Kandidatenjoker gezogen hätten, wäre das wohl kaum der Fall gewesen.
Zur Person
(is) Ob Wladimir Putin das Porträt von Dmitri Medwedew über seinem Schreibtisch aufhängen wird, wenn er in zwei Monaten in seine neuen Amtsräume übersiedelt, ließ er offen. Das plötzlich auf den Kopf gestellte Autoritätsverhältnis macht dem künftigen Regierungschef zu schaffen. Die beiden verbindet zwar eine enge Arbeitsbeziehung, Medwedew war ihm dabei aber stets untergeben. Und dankte es seinem politischen Ziehvater mit ergebener Loyalität.
Begonnen hat die Zusammenarbeit der beiden Petersburger 1992, als Putin, damals Vizebürgermeister der Stadt, den wirtschaftsliberal gesinnten Juristen in die Stadtverwaltung holte. Später folgte Medwedew seinem Mentor, der in der Kremlverwaltung eine Anstellung fand, nach Moskau nach. Mit Putins Aufstieg zum Präsidenten ging auch dessen Karriere steil bergauf: Medwedew, der aus einer belesenen Akademikerfamilie stammt und dem der Ganovenjargon eines Putin fremd ist, wurde zunächst Leiter der Kremlverwaltung, später machte ihn sein Mentor auch zum Aufsichtsratschef des staatlichen Gazprom-Konzerns und schließlich 2005 zum Vizepremier, wo er, - wenig erfolgreich - für Verbesserungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und Landwirtschaft zuständig war.