Zum Hauptinhalt springen

"Auge um Auge" - Rache in Rechtsform

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

Eine durch ein Säureattentat entstellte Iranerin erwägt, für zwei Millionen Euro auf die Blendung des Attentäters zu verzichten. Das verweist auf die Regeln des Korans, um Blutrache zu unterbinden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Vielleicht zwei Millionen Euro" wäre der Iranerin Ameneh Bahrami der Verzicht auf das islamische "Auge um Auge"-Prinzip wert. Ein Scharia-Gericht hatte zuvor die Vollstreckung des Urteils verschoben, wonach die 32-Jährige jenen Mann mit Säure blenden dürfe, der ihr wegen verschmähter Liebe mit einem Säureattentat die Augen zerstört und das Gesicht entstellt hatte. Emotionsfreie Logik spräche für Geld, weil "Auge um Auge" das Los des Opfers nicht erleichtert.

Die Entscheidung über Rache oder Entschädigung liegt daher auch beim Opfer und nicht nur im Ermessen eines Gerichts. Das Dilemma lautet somit, ob es um größtmöglichen materiellen Nutzen für das bedauernswerte Opfer oder um gleich schweren Schaden für den Täter geht.

Gewiss können nur jene diesen erschütternden Fall eher emotionsfrei analysieren, die nicht ohne Augenlicht den Weg durch das Leben finden müssen. Dabei ist das Auge das wichtigste aller unserer angeborenen Kommunikationsorgane wie Gehör, Geruchssinn oder Stimme. Der Verlust eines von diesen behindert aber nicht so nachhaltig wie Blindheit. Solche Überlegungen nützen dem Opfer des Säureattentats nicht. Sie verweisen aber auf das islamisch-religiöse Rechtssystem der Scharia, in dem nicht ein Richter allein, sondern eben auch das Verbrechensopfer urteilen kann, wie es der Koran vorgibt.

Sure 5, Vers 39 bestimmt: "Einem Dieb und einer Diebin haut man zur Strafe die Hände ab. Diese warnende Strafe ist von Allah, denn er ist allmächtig und allweise. Wer aber seine Sünde bereut, dem wird sich Allah verzeihend und barmherzig wieder zuwenden." Und Vers 46 ergänzt: "Es ist vorgeschrieben, mit Wiedervergeltung Leben für Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr für Ohr und Zahn um Zahn zu bestrafen. Sollte jemand auf Sühne

(= Rache) verzichten, dem werden seine Sünden verziehen und die Sühne mag als Versöhnung angenommen werden." Damit wollte der Prophet Mohammed in Allahs Auftrag einen geregelten Ausweg aus der üblichen Blutrache und ihrer Eskalation öffnen.

So steht nun das Säureopfer Bahrami vor einer sehr schwierigen Wahl, zumal Sure 2, Vers 179 noch einen Maßstab für Extremfälle vorgibt: "Bei Tötung sei Vergeltung vorgeschrieben: Ein Mann für einen Mann, ein Weib für ein Weib. Vergibt aber der Bruder dem Mörder, so ist doch angemessenes Sühnegeld zu erheben. Der Schuldige soll gutwillig zahlen. Diese Milde und Barmherzigkeit kommt von Allah. Das Recht auf Wiedervergeltung (= Rache) erhält euer Leben und eure Sicherheit, wenn ihr vernünftig nachdenkt und gottesfürchtig seid."

Allahs "Milde und Barmherzigkeit" und sein Appell an die Vernunft ändern mithin nichts am Recht auf Rache. Das ist unvereinbar mit unsere Auffassung von der "Herrschaft des Rechts", die eine unabhängige Justiz sichert. Daher verhängen unsere Gerichte im gesetzlich festgelegten Spielraum eine angemessene Strafe, die Rache ausschließt. Eben deshalb fehlt uns das Verständnis zumindest für Teile der Scharia.

Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".