Lhasa. "Teardrops on the Kyichu River" ist der Augenzeugenbericht einer Frau, die am eigenen Leib die Gräueltaten der chinesisch-kommunistischen Besetzung Tibets 1959 erlebt hat. Kusang Choden Dahdul, die Autorin, beschreibt in dieser Autobiografie das Leid, das sie und ihre Mitmenschen damals erleben mussten.
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Der österreichischen Tibeter-Hilfsorganisation "Save Tibet" hat Kusang anlässlich des 50. Jahrestages des Aufstands gegen die chinesische Besetzung am 10. März 1959 einen Vorabdruck ihrer Erinnerungen, die demnächst in Buchform erscheinen sollen, zur Verfügung gestellt.
"Sie wurde verhaftet und in Ketten im Barkor Distrikt in Lhasa vorgeführt. Meine Mutter weinte und opferte Butterlampen für sie im Jokhang Tempel, wissend, was mit der Nonne passieren würde". Diese Aussage spiegelt die Schrecken, die Kusang während dieser Zeit am eigenen Leib miterleben musste. Ihre Eltern verloren ihr Leben im Kampf gegen die kommunistische Besetzung. Ihr Vater weigerte sich, den Dalai Lama, zu verurteilen. Im Gefängnis von Taring wurde er gefoltert und dann umgebracht. Dreimal wurde ihre Mutter gezwungen, öffentliche Anklage- Verhandlungen zu erdulden; sie starb an ihren Verletzungen im indischen Exil. Als Kind eines "Reaktionärs" wurde die Autorin des Augenzeugenberichts selbst in eine kommunistische Schule in Lhasa gesteckt, wo sie jahrelang Zwangsarbeit und Schikanen erdulden musste. Jedoch floh sie als neunjähriges Kind 1962 aus der tibetischen Hauptstadt.
10. März 1959
Es folgt ein Auszug aus dem Augenzeugenbericht: "Am frühen Morgen des 10. März 1959 war meine Mutter sehr aufgeregt und in Tränen aufgelöst, als sie mich weckte. Sie sagte, wir müssten uns beeilen und zum Norbulinka Palast gehen, da das Leben seiner Heiligkeit des Dalai Lama wegen der Absicht der Chinesen, ihn zur Teilnahme an einer Veranstaltung zu locken und dann zu entführen, in Gefahr wäre. Sie war sehr bewegt und sagte, ganz Lhasa würde gehen und so müssten auch wir hingehen, um seine Heiligkeit zu beschützen, komme was wolle. Würden wir bei diesem Versuch sterben, sagte sie, wäre das eine große Ehre, denn wir würden geradewegs in 'Chenresi's (Avalokitesvara) Paradies' kommen.
Als Kind hatte ich damals wirklich Angst bei dem Gedanken, sich den chinesischen Truppen entgegenzustellen und zu sterben, auch wenn es eine Abkürzung zum Paradies bedeutete! So wurde ich halb mitgetragen, halb mitgeschleppt. Als wir uns den Toren des Norbulinka, der Sommerresidenz seiner Heiligkeit des Dalai Lama, näherten, war dort schon eine riesige Menschenmenge versammelt - Menschen aus allen Gesellschaftsschichten einschließlich Bettler. Sogar der rotznäsige 'Kukpa', ein geistig behinderter Bettler, der von den meisten Haushalten in Lhasa mit Humor toleriert wurde, war da. Bevor wir gingen, erhaschte ich noch einen Blick auf ihn, wie er gleichzeitig weinte und lachte. Tatsächlich war es ein spontaner Aufstand gegen die chinesische Präsenz in Tibet, ebenso wie die Notwendigkeit, Seine Heiligkeit zu beschützen.
Zeugin der Steinigung
Als wir ankamen, war ich Zeugin der Steinigung zweier tibetischer Männer, wobei der eine tödlich verletzt wurde und der andere weglief, nachdem er getroffen wurde. Beide trugen etwas, das wie chinesische Uniformen aussahen, und die Menschenmenge hielt sie für Verräter. Ich erinnere mich, dass meine Mutter sagte, der Getötete wäre jemand namens Phagpala. Die Menge bewarf sie mit Steinen, Stöcken und was auch immer sie in die Finger bekam. Bald verbreitete sich das Gerücht, dass Seine Heiligkeit nicht mehr im Palast wäre. Manche befürchteten das Schlimmste. Die Stimmung war durch entfesselten Zorn und Massenhysterie aufgeheizt, als einige Teilnehmer der Menschenansammlung den toten Körper des Mannes in Richtung der Stadt Lhasa schleppten. Wir flüchteten von dort, um nicht von der Menge niedergetrampelt zu werden, und suchten Zuflucht im Haus eines 'Chang' (tibetisches Bier) -Verkäufers. Während wir von der Tür des Chang-Verkäufers zusahen, erinnere ich mich, dass ich weitere Tibeter, meist einfache Menschen, auf den Norbulinka zulaufen sah, wobei sie Messer und Hackbeile schwangen. Später wurde uns erzählt, dass viele starben.
Wir kamen früher als andere nach Hause und fanden die meisten Häuser verlassen vor. Ich erinnere mich, dass ich nicht nur durch die Ereignisse entsetzt war, sondern auch in der Menge schlimm gequetscht wurde. Ich erinnere mich auch daran, wie hungrig und durstig ich war, da wir den ganzen Tag lang nichts zu essen und zu trinken hatten. Als Kind erkannte ich damals nicht, dass dieser ein bedeutsamer Tag in den Annalen der modernen Geschichte Tibets werden würde, der Tag des spontanen 10. März-Aufstandes der Tibeter gegen die chinesische Besetzung Tibets!
Einen oder zwei Tage später nahmen wir an einer Versammlung von hunderten, zumeist tibetischen Frauen beim Shol unterhalb des Potala Palastes teil. Meine Mutter, stets Patriotin, überredete mich, auch zu diesem staubigen Ereignis mitzugehen. Eine mutige tibetische Nonne hielt eine historische Rede am Shol. Viele weinten laut. Es war eine sehr starke und leidenschaftliche Rede gegen die chinesische Okkupation.
Sie wurde verhaftet und in Ketten im Barkor Distrikt in Lhasa vorgeführt. Meine Mutter weinte und opferte Butterlampen für sie im Jokhang Tempel, wissend, was mit der Nonne passieren würde. Sie wurde später von einem Exekutionskommando erschossen. Sie gab, heldenhaft, bis zum Ende nicht auf. Was mich betrifft, ist sie unsere erste weibliche Märtyrerin. Ihr Name war, wie ich später erfuhr, Kundeling Kunsangla.
Tibet ist nicht frei
Fünfzig Jahre nach diesem Aufstand ist es schwer zu glauben, dass die Tibeter noch immer nicht frei sind und noch immer unter der chinesischen Besetzung ihres Landes leiden. Die Tragödie Tibets, die die Schande des 20. Jahrhunderts war, fährt fort, auch die Schande des 21. Jahrhunderts zu sein! Für mich war jener Tag erst der Anfang von drei entsetzlichen Jahren, während derer meine Familie als unmittelbares Opfer der nachfolgenden blutigen Okkupation leiden musste." (APA