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Aus dem Theater ins Gefängnis

Von Martyna Czarnowska

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Die meisten fuhren vom Danziger Bahnhof in Warschau weg. Von dort gingen die Züge nach Wien. Danach führte die Reise nach Israel oder nach Deutschland. Sie führte "Gott sei Dank nicht in den Tod" - auch wenn der Danziger Bahnhof damals "Umschlagplatz" genannt wurde, genauso wie jener Ort im Warschauer Ghetto, an dem im Zweiten Weltkrieg Juden in Züge nach Auschwitz gesteckt wurden.


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Dennoch hatte sich "so gut wie niemand freiwillig zur Ausreise entschlossen", erinnert sich der Literaturwissenschafter Karol Sauerland in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Nicht nur er spricht von einem Exodus, der in das geistige Leben Polens eine große Lücke geschlagen hatte. Denn unter den jüdischen Auswanderern, die den millionenfachen Mord etwas mehr als 20 Jahre zuvor überlebt hatten, waren etliche Universitätsprofessoren, Forscher und Künstler.

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Am Anfang war eine abgesetzte Theateraufführung. Am Ende waren tausende polnische Juden zur Emigration gezwungen, unterschiedlichen Angaben zufolge 13.000 bis 20.000 Menschen. Dazwischen lagen die Ereignisse des März 1968: Studentenproteste, Verhaftungen und eine von den sozialistischen Machthabern gesteuerte antisemitische Hetze.

Die Unruhen in Polen ähnelten kaum den 68er-Revolten in westeuropäischen Ländern. Die Bevölkerung murrte über steigende Preise für Lebensmittel, von denen viele sowieso schwierig zu bekommen waren. Studenten saßen Gefängnisstrafen ab, weil sie - gestützt auf Argumente des Marxismus - die sozialistische Bürokratie angeprangert hatten. Und dann kam die Ankündigung, dass "Die Totenfeier" ("Dziady") des Nationaldichters Adam Mickiewicz abgesetzt werde.

Erst wenige Monate davor, am 24. November 1967, hatte das Drama im Warschauer Nationaltheater Premiere. Geschrieben in einer Zeit, als Polen zwischen Preußen, Russland und der Habsburgermonarchie aufgeteilt war, spielen die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen im 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle. Kein Wunder, dass das Publikum der 60er-Jahre nach Parallelen zur sowjetischen Unterdrückung suchte - auch wenn die antirussischen Anklagen im Stück wegen der Zensur gestrichen wurden.

Ob die Absetzung des - zuvor genehmigten - Dramas die Unruhen gerade provozieren sollte, um die Aktivisten festnehmen zu können: Darüber sind sich selbst die damaligen Demonstranten uneinig. Jedenfalls zogen schon nach der letzten Vorstellung am 30. Jänner 1968 mehrere hundert Studenten zum Mickiewicz-Denkmal und forderten die Freiheit der Kunst ein. Am 8. März löste die Miliz mit Schlägen eine Versammlung in der Warschauer Universität auf, bei der sich Studenten mit ihren verhafteten Kollegen solidarisierten. In zahlreichen Städten folgten bis 28. März Kundgebungen und Proteste, die niedergeknüppelt wurden.

Gleichzeitig lancierte die Parteispitze der PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei), der Aufruhr sei von Studenten jüdischer Herkunft angestachelt. Sie propagierte die These von einer "zionistischen Verschwörung", die den Staat unterwandern möchte. Tausende Juden wurden aus der Partei ausgeschlossen, mussten die Universitäten verlassen, verloren ihre Arbeitsplätze, wanderten aus. Nur wenige von ihnen kehrten Jahre später wieder zurück.

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Kurz vor dem 40. Jahrestag der März-Ereignisse kam es in Polen zu einem Tauziehen um eine Geste an die Emigranten von damals. Präsident Lech Kaczynski wollte den Vertriebenen feierlich eine Bestätigung der polnischen Staatsbürgerschaft überreichen. Da gebe es aber rechtliche Probleme, wandte das Innenministerium ein. Wenn die Staatsbürgerschaft entzogen worden sei, könne sie nicht so einfach wieder zurückgegeben werden.

Schließlich fand das Ministerium doch noch eine Lösung. Die regionalen Behörden sollen auf Antrag der Betroffenen bestätigen dürfen, dass die Aberkennung der polnischen Staatsbürgerschaft ungültig sei. Dies solle "sehr schnell" gehen.