Immer mehr Archivbestände werden mithilfe der Digitalisierung gespeichert. Bisher verborgene Texte können dabei an die Oberfläche gelangen.
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"Wir brauchen sieben Leben, bis wir alle unsere Bestände digitalisiert haben", sagt Karin Holzer und lacht. Sieben Leben – das sind 350 Kilometer Archivmaterial, die im Österreichischen Nationalarchiv darauf warten, in digitale Signale umgewandelt zu werden. Akten, alte Rechtsschriften, Grammatiken, historische Quellen: Im Nationalarchiv lagert viel davon, was die Identität eines Landes ausmacht. Archive heißen deshalb nicht umsonst auch Gedächtnisinstitution.
Um dieses Gedächtnis auch für die Zukunft zu erhalten, werden die Bestände im Nationalarchiv seit einigen Jahrzehnten von Expertinnen und Experten digitalisiert. Archivalien können entweder selbst eingescannt, oder von einer eigenen Reprostelle von Mitarbeitenden digitalisiert werden. Daneben gibt es bereits Bestände, die auch online durchsuchbar sind, wie Karin Holzer erklärt.
Tief im Unterbewusstsein dieser Gedächtnisinstitution schlummern aber auch andere Arten der Archivalien – jene, die in der analogen Welt nicht sichtbar sind, und erst durch Umwandlung ins Digitale lesbar werden. Palimpseste, mittelalterliche oder antike Texte. Ihre erste Schrift wurde mit einem Messer abgeschabt oder mit Zitronensaft abgewaschen, die Seite neu überschrieben. Übrig bleibt ein Text unter dem Text, der sich dem menschlichen Auge entzieht.
Pergament war ein teures Gut
Dass Texte überschrieben wurden, lag meist nicht an Zensur, sondern an neuen Lektürebedürfnissen, wie Katharina Kaska erzählt. Sie studierte Physik, Altgriechisch und Historische Hilfswissenschaften und ist Direktorin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB): "Wenn Pergament wiederbeschrieben wurde, lag es einfach daran, dass Schreibmaterial für einen neuen Text gebraucht wurde." Das Pergament war nämlich kostspielig und nicht immer standen genügend Tiere zur Verfügung. Aus der Haut eines Schafes oder einer Ziege ließen sich nur etwa vier Doppelblätter, also acht Blätter schneiden. Daher wurden Texte, die überflüssig wurden, getilgt. So zum Beispiel lithurgische Texte, weil etwa alte Regelwerke überholt waren.
Während in den österreichischen Klöstern vermutlich wegen der ausreichend vorhandenen Tierhäute nur sehr selten Palimpseste hergestellt wurden, ist das im griechischen Kulturraum anders: Dort wurden häufiger Palimpseste produziert. Die Österreichische Nationalbibliothek hütet unter den 11,1 Millionen Objekten eine Handvoll davon. Manche dieser Palimpseste sind dabei sehr wichtige Textzeugen, manchmal sogar einmalige Quellen für sonst verlorene Werke, wie Kaska betont, darunter etwa Werke byzantinischen Rechts, eine Schrift über die Georgslegende und eine Schrift über die griechische Prosodie, also Akzentlehre. Die griechischen Palimpseste der ÖNB versuchten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter bereits seit den 1950er Jahren mit einer UV-Lampe zu entziffern. Viele der getilgten Textschichten konnten allerdings erst in den vergangenen Jahren mit modernen technischen Methoden lesbar gemacht werden.
Die erste vordigitale Sichtbarmachung gelang mit UV
In früheren Phasen der Geschichtswissenschaft entwickelten Historiker brachiale Methoden, um Tinte zu reaktivieren und sich so Zugang zu den Textschichten zu verschaffen, wie Buchrestaurator Manfred Mayer erklärt: etwa durch Aufstreichen von Säure auf den Text, wodurch die Schriftzüge verstärkt werden. Dadurch wird allerdings das Pergament verbräunt und das Objekt zerstört. "Heute geht man mit den Objekten extrem sensibel vor, nichts wird berührt, kaum bestrahlt", sagt Mayer.
Manfred Mayer kommt über die technische Seite an die Palimpseste: Der Grazer studierte Elektro- und Messtechnik und leitete bis zu seiner Pensionierung die Buchrestaurierung an der Universität Graz. Auch hier ruhen einige Palimpseste, und Mayer hat an der Digitalisierung dieser unsichtbaren Schätze mitgearbeitet. Grundsätzlich werden auch heute noch die ausradierten Texte mithilfe von UV-Stahlen lesbar gemacht. "Der Text wird mit Ultraviolettlampen bestrahlt und die Tinte auf dem Pergament kommt zum Vorschein. Das geschieht, weil das Pergament um die Tinte herum fluoresziert", erklärt er. Dadurch ergibt sich ein stärkerer Kontrast und die Schrift kann besser entziffert werden.
Dass Textschichten unter UV-Lampen untersucht werden, ist nicht neu. Die UV-Strahlung wurde bereits seit den 1930ern beim Entziffern von Palimpsesten eingesetzt. Wird eine Buchseite mit UV-Licht bestrahlt und die getilgte Textschicht sichtbar, reichte das damals nur, um die Schriften abzuschreiben, nicht aber, um die ganze Seite abzubilden. Mayer entwickelte in der Sondersammlung für Handschriften in Graz ein Digitalisierungskonzept: Mithilfe eines speziell entwickelten Equipments werden die Schriften während der UV-Bestrahlung nicht belastet, gleichzeitig wird ein Foto von der Buchseite aufgenommen.
Hierzu wird das Buch in eine eigens von Mayer entwickelte Buchwiege gelegt: Der Öffnungswinkel von weniger als 140 Grad schont den Bucheinband. Zum Scannen werden einzelne Buchseiten manuell auf einen sogenannten Saugarm gelegt. Mit einem leichten Unterdruck wird das Blatt nur am meist unbeschriebenen Rand angesaugt. Dann wird die UV-Strahlung auf den Text geleitet, damit die Tinte auf dem Pergament zum Vorschein kommt. Für die fotografische Aufnahme werden handelsübliche Digitalkameras eingesetzt, die von sich aus für die UV-Fluoreszenzfotografie geeignet sind.
Die Wiener Skythengeschichte und ihr langer Weg in die Sichtbarkeit
Zurück in die Österreichische Nationalbibliothek: Um das in den Palimpsesten verborgene Kulturerbe wiederzugewinnen, tut sich die ÖNB mit anderen Einrichtungen zusammen, die über die kostspieligen Geräte und die Digitalisierungs- und Bildverarbeitungsspezialisten verfügen, wie etwa die Early Manuscripts Electronic Library (EMEL) in Kalifornien, die Technische Universität Wien oder die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung in Berlin. Ein wichtiger Forschungspartner ist hier vor allem die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien, die sich seit zwanzig Jahren einer systematischen Bearbeitung der griechischen Palimpseste der ÖNB unter Einsatz modernster Digitalisierungsmethoden widmet. Denn die Texte mit UV zu bestrahlen, so einfach ist es meistens doch nicht, wie Katharina Kaska erzählt.
Eines dieser griechischen Palimpseste, an denen die ÖNB und die ÖAW und internationale Forscherinnen und Forscher unter der Leitung der Altphilologin Jana Grusková vom Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Byzanzforschung der ÖAW, gemeinsam arbeiten, sind die sogenannten Scythica Vindobonensia, die "Wiener Skythengeschichte". Sie lagert ebenfalls in der Österreichischen Nationalbibliothek, wurde dort von Grusková vor einigen Jahren entdeckt und wird von ihr zusammen mit dem Altphilologen Gunther Martin von den Universitäten Düsseldorf und Zürich untersucht.
Die Skythengeschichte ist ein Schriftstück aus dem dritten Jahrhundert. Diese Zeit war für die Römer ein krisenreiches Jahrhundert, der Niedergang der antiken Welt kündigte sich an. Neben den Goten fielen auch andere Völker von nördlich der Donau ins Römische Reich ein. Zeitzeuge Dexippos bezeichnet alle diese Völker als Skythen und beschreibt in der Skythengeschichte detailreich, wie diese Völker in den Balkan, damals römische Provinz, eindrangen. Obwohl die im Wiener Palimpsest erhaltenen Fragmente des antiken Originalwerkes nur acht Seiten stark sind, geben sie Auskunft über wichtige historische Ereignisse und Details der Verwaltung der römischen Provinzen und der Militärgeschichte im dritten Jahrhundert, wie es bisher kein Literaturwerk der Geschichtsschreibung über diese Zeit vermochte.
Um die Wiener Skythengeschichte an die Oberfläche zu bringen, kooperierten die Forschenden mit internationalen Digitalisierungsteams: Unter der Projektleitung von Byzantinist Otto Kresten haben Grusková und Martin bereits 2013 mit der Digitalisierung angefangen und die Blätter zusammen mit der EMEL multispektral aufgenommen, also Aufnahmen in verschiedenen Wellenlängen erfasst. "Die ersten Digitalisierungsproben haben gezeigt, dass die Lesbarmachung der fast komplett abgetragenen Schrift eine echte Herausforderung sein würde", sagt Grusková. Innerhalb von zwei Projekten entzifferten Grusková und Martin die Texte, veröffentlichten vorläufige Transkriptionen mit Erschließungsergebnissen, und untersuchten gemeinsam mit dem Althistoriker Fritz Mitthof von der Universität Wien den neuen Quellentext auch in einem historischen und historiographischen Kontext.
Ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingt die Digitalisierung nicht
Erst die erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit der Philologie mit der Digitalisierung, Bildverarbeitung und Materialwissenschaft ermöglicht, dass Palimpseste wiedergewonnen werden. "Wir Philologen identifizieren genau, welche Teile der Handschrift lesbar gemacht werden sollen. Die Digitalisierungsspezialisten – sei es aus dem technischen und optischen Bereich, sei es aus dem materialwissenschaftlichen Bereich – fotografieren oder scannen die identifizierten Teile der Handschrift und geben danach das aufgenommene Bildmaterial an die Image Scientists weiter", erklärt Grusková die Teamarbeit. Image Scientists wiederum verarbeiten die Aufnahmen in Softwares in enger Rücksprache mit den Philologinnen und Philologen, um die Lesbarkeit der getilgten Schrift zu verbessern. Danach gehen die verarbeiteten Bilder wieder an die Philologie, wo sie sehr genau untersucht werden, um die Reste der originalen Schrift in allen Details zu erkennen und den Text zu entziffern. Bleiben doch Teile unleserlich, versuchen Image Scientists erneut, sie wiederzugewinnen. "So wird Runde um Runde die Lesbarkeit verbessert und die Textentzifferung vervollständigt", sagt Grusková. Und Katharina Kaska fasst zusammen: "Einen Text wiederherzustellen, ist modernster technischer, naturwissenschaftlicher und philologischer Einsatz."
Bei der Wiener Skythengeschichte aus der Österreichischen Nationalbibliothek sind noch etwa 15 Prozent verborgen. Die Textentzifferung beschreibt Grusková als eine langwierige und arbeitsintensive Aufgabe – besonders jetzt, wo der Text größtenteils schon entziffert wurden und sozusagen die harten Nüsse übrigbleiben. Wenn die Texterschließung einmal abgeschlossen sein wird, planen Grusková und Martin jedenfalls, eine Edition zu veröffentlichen. Natürlich auch digitalisiert.