Wie und warum eine 72-Jährige in Niederösterreich ohne jegliche staatliche Unterstützung auskommen muss.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es wird aufgetischt: Tamara S. serviert Schwarztee und Korzinotschki. Das sind Mürbeteigkörbchen mit einem weißen Gipfel aus Eiweißcreme, auf denen jeweils eine Heidelbeere thront. Auf dem guten Geschirr, es ist vom Flohmarkt. Die 72-Jährige verwendet es sonst nur, wenn die Enkel zu Besuch sind. Das sind sie im Moment selten: Corona. Tamara S. hat Angst vor einer Ansteckung. "Im Moment kommt sonst niemand, ich bin ja nicht versichert. Die Karte funktioniert ja nicht mehr." Sie selbst trinkt Oregano-Tee, hilfreich bei Atemwegserkrankungen.
2010 hatte sie in Österreich nach ihrer Flucht aus Tschetschenien ein humanitäres Bleiberecht erhalten. Auf dem Bescheid dazu ist vermerkt, dass ihre "Ausweisung auf Dauer unzulässig ist". Seit zwei Jahren erhält sie keine staatliche Unterstützung mehr, sondern ist komplett auf wohltätige Unterstützung angewiesen. Es war ein Rückschlag für die quirlige, ältere Dame: In der ersten Zeit habe sie viel geweint, "ich war schon sehr niedergeschlagen".
Der Grund ist Niederösterreichs neues Sozialhilfe-Ausführungsgesetz von 2019. Menschen wie Tamara S. mit humanitärem Bleiberecht erhalten, weil sie darin nicht dezidiert erwähnt werden, keine Sozialhilfe. Anders als in anderen Bundesländern bekommen sie auch keine Grundversorgung wie Asylsuchende, die "Wiener Zeitung" berichtete - sondern gar keine finanzielle Unterstützung. Tamara S. sagt trotzdem: "Ich beschuldige niemanden. Junge können ja arbeiten. Vielleicht hat die Politik vergessen, dass es auch so Alte wie mich gibt. Es gibt keine Ausnahmen im Gesetz." Und immer und immer wieder sagt sie: "Ich will arbeiten. Wenn ich zu Hause alles alleine machen kann, kann ich das auch woanders."
Keine Pensionsansprüche aus langen Arbeitszeiten
Man nimmt es Tamara S. sogar ab, dass sie das - obwohl längst im Pensionsalter - durchaus könnte. Sie ist in ihrem permanenten Tun kaum zu bremsen. Schon springt sie wieder vom Küchentisch auf, holt weitere Papiere, um damit ihre Geschichte zu untermauern. Im Bewerbungsmäppchen mit Lebenslauf wird sichtbar, dass sie in Tschetschenien Buchhaltung gelernt hat. Danach kamen ihre beiden Kinder, daneben ein Studium, dann mehr als 25 Jahre Berufserfahrung bei einer Sparkasse, einige davon als Leiterin. Nach dem Krieg ließ sie sich zur Konditorin ausbilden, arbeitete fast zehn Jahre als solche, "am Anfang 16 Stunden am Tag, das hat mir nichts ausgemacht" - damals, noch in Tschetschenien.
Kurze Zeit weicht das Lächeln aus ihrem Gesicht: "Die Zeit nach dem Krieg war die allerschlimmste." Ihr Sohn war im Widerstand, sei deshalb geflüchtet. Sie erzählt, dass die Polizei von Haus zu Haus zog, auch sie bedroht habe. Sie habe beobachten müssen, dass Gesuchte gefoltert und erschossen worden sind. "Anzeigen, willkürliche Gewalt, einfach schrecklich. Ich wollte nicht abwarten, was die Polizei macht, wenn sie zum zweiten Mal in mein Haus kommt."
Tamara S. ließ also Haus und Garten zurück, "so schöne, große Marillen, wunderbare Pfirsiche", erinnert sie sich heute. Sie kam nicht wegen materieller Unterstützung nach Österreich, "ich habe alles zurückgelassen", sondern aus Angst. Sie habe gehofft, nach einiger Zeit zurückkehren zu können, die politische Situation aber habe sich nicht verbessert.
Sie lernte Deutsch, ging zum AMS, um Arbeit zu finden: "Sie haben mir aber gesagt, mit über 60 wird das schwierig. ‚Wir finden für Sie nichts. Es ist Zeit für Sie, in Pension zu gehen, nicht mehr zu arbeiten.‘" Pensionsansprüche aus der Russischen Föderation nach Österreich zu übertragen, ist allerdings unrealistisch. Tamara S. arbeitete geringfügig in einem Restaurant als Abwäscherin, erhielt 16 Euro für die zwei Stunden pro Woche, musste fünf davon für den Bus hin und zurück ausgeben: "Ich habe gehofft, wenn ich fleißig bin, geben sie mir mehr Stunden, aber das hat leider nicht so funktioniert." Nach einem Krankenhausaufenthalt musste sie die Arbeitssuche aufgeben und erhielt Mindestsicherung - bis vor zwei Jahren dann eben das neue Sozialhilfegesetz kam.
Ein Gefühl, "wie wenn man rausgeschmissen wird"
Seither lebt sie von der Unterstützung anderer. Das Sofa haben ihre beiden Enkel, einer noch in der Lehre, einer bei der Post, ihr zum Geburtstag geschenkt. Ihr Sohn arbeite ebenfalls, "was möglich ist, teilt er", er habe aber in Summe fünf Kinder, darunter auch noch jüngere, zu versorgen. Einer ihrer Freunde sammelte Geld für ihre Miete, NGOs bezahlten vergangenes Jahr die Pellets für ihre Heizung. "Ich weiß noch nicht, wie ich das heuer machen soll." Tamara S. ist es wichtig, ihren Helferinnen und Helfern Dank auszurichten: "Danke, Danke, Danke", sagt sie zwischendurch immer wieder. Sie sagt aber auch: "Zu helfen, ist ein angenehmeres Gefühl. Hilfe anzunehmen, ist viel schwerer."
Tamara S. scheint das zu sein, was man als gut integriert bezeichnet. Sie "verwöhnt uns immer mit verschiedenen Süßigkeiten", heißt es in einem Schreiben einer NGO. In einem anderen, sie trage dazu bei, "dass ein gedeihliches Miteinander zwischen Zuwanderern und Einheimischen entsteht".
"Ich mag Österreich, es gibt so viele freundliche Menschen hier", sagt die ältere Dame selbst. Vor der Pandemie kochte sie bei interkulturellen Festen, studierte mit Mädchen tschetschenische Tänze ein, unterrichtete Kinder in Tschetschenisch, Russisch und Arabisch. Mit einer Schneiderin, die ihr das Nähen beigebracht habe, "haben wir ein Nähcafé organisiert".
Im Moment näht sie zu Hause, eine Freundin legte ihr im Lockdown "einen so angenehmen Stoff vor die Tür, einfach wunderbar!" - sie präsentiert das Kleid daraus. Eine hiesige Sparkassenmitarbeiterin und sie grüßen einander wie frühere Kolleginnen. Sie kümmert sich darum, dass das Mehrparteienhaus, in dem sie wohnt, sauber bleibt. Sie liest im Koran, würde gern wieder alte Rezepte aus ihrer Heimat an andere weitergeben. "Ohne etwas zu tun, auf der Couch zu liegen, das bin nicht ich".
Die 72-Jährige gehört zur Gemeinschaft: "Aber das alles nützt nichts." Mit dem Ende der Sozialhilfe fühlte sie sich, "wie wenn man ausgestoßen oder rausgeschmissen wird". Die Pandemie beschränkt ihren Kontakt nach außen im Moment vor allem auf Anrufe. Ihr Handy meldet sich mehrmals aus dem Nebenzimmer. Sie wird erst später rangehen, sieht nur einmal drauf und lächelt wieder.
Sie habe sich bereits erkundigt, ob sie einen anderen Aufenthaltsstatus erhalten könne, "leider keine Chance". Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs zu einem Antrag auf außerordentliche Revision steht noch aus. Dabei geht es um die Frage, ob ihr Aufenthalt in Österreich nicht als "dauernd niedergelassen" zu werten ist, weil sie nicht in die Russische Föderation zurückkehren könne und werde. In diesem Fall müsste Niederösterreich Sozialhilfe bezahlen, bei einem Nein aber nicht.
"Brot ist wichtig", sagt Tamara S. Wieder auf eigenen Füßen zu stehen ist ihr jedenfalls noch wichtiger: "Die einzige Möglichkeit ist für mich, wieder zu arbeiten. "Das wäre so schön, ich habe genug Kraft dafür", versichert sie. Viel Hoffnung macht sie sich offenbar trotzdem nicht: "Wenn im Pass steht, dass du 72 Jahre alt bist, hilft es nichts, wenn du dich wie 50 fühlst" - und lacht trotz alledem verschmitzt.