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Aus Mensch wird Cyborg wird Mensch

Von Alexandra Grass

Wissen
© © Simon Rehnström

Technologie hat das Leben von Chris Dancy, dem "most connected man on earth", zu einem besseren gemacht, sagt er.


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Chris Dancy wird als der "most connected man on earth" bezeichnet. Sensoren, Apps und viele weitere Gadgets an seinem Körper, zu Hause, aber auch im Auto begleiten ihn durch seinen Alltag. Dieser ist im Laufe der Zeit zu seinem persönlichen Netzwerk gewachsen. Ein technologiebasiertes Netzwerk, das Daten sammelt, auswertet und speichert und damit über seinen Körper und Geist wacht. Ziel ist die Aufwertung seiner Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Dennoch sieht er sein Leben als selbstbestimmt und nicht von Maschinen gelenkt. Heute sei er mehr Mensch als noch vor wenigen Jahren. Im Interview mit der "Wiener Zeitung" spricht Chris Dancy über die Beweggründe, das Leben als Cyborg und die Zukunft.

"Wiener Zeitung":Wir beide sind Menschen. Doch was unterscheidet uns trotzdem, außer, dass ich eine Frau bin?Chris Dancy: Es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Denn ich sehe alles als Werkzeug. Kleidung, Smartphones, Brillen. Wir beide nützen solche Hilfsmittel, um unser Leben besser zu gestalten. Der Unterschied besteht nur darin, dass wir sie entsprechend unseren Bedürfnissen verschieden einsetzen. Vor zehn Jahren war ich ungewöhnlich, heute bin ich dagegen ziemlich angesagt. Und bald werden viele so sein wie ich. Aber hören wir damit auf, in zwei Spezies zu denken.

Es wird behauptet, Sie seien der am meisten vernetzte Mensch auf der Welt.

Ja, laut Google (lacht).

Sie selbst bezeichnen sich als "Mindful Cyborg". Bei dem Begriff Cyborg denken wir an Mischwesen zwischen Roboter und Mensch. Sind Sie das?

Ein Cyborg ist ein lebender Organismus, der mit Technologie verbessert oder in seinen Funktionen erweitert wird. Ein Hund mit einem GPS-Halsband ist ein Cyborg. Ich selbst nenne mich "Mindful Cyborg", weil ich die Technologie achtsam nütze, um präsenter zu sein. Natürlich ist das Bild des Cyborgs mit Roboter-Bauteilen verständlicher. Man muss allerdings nicht einmal damit bestückt sein, um ein Roboter zu sein. Unser Verhalten lässt manche dazu werden, nicht unsere Zusammensetzung oder Applikationen.

Welche Hilfsmittel nützen Sie?

Zu Beginn habe ich nahezu an meinem ganzen Körper und meiner Kleidung Sensoren getragen, um etwa den Puls, die Körpertemperatur, die Herzrate oder die Atmung aufzuzeichnen und vieles, vieles mehr. Heute lebe ich minimalistisch und nütze nur die für mich wesentlichen Informationen wie Zeit, Ort und Tätigkeit. Darüber hinaus biometrische Daten wie Herzrate und Schlaf und Umwelteinflüsse wie Licht, Temperatur und Geräusche. Technologie erlaubt dir, dich zu verändern. Ob das zu Zerstörung oder zu Verhaltensmodifikationen führt, hängt von jedem selbst ab. Auf jeden Fall ist es nicht gut, nur die Masse zu sein. Ich will mich nicht korrigieren, sondern sein.

Wie ist es zu dieser Idee gekommen?

2008 wurde ich 40 und war etwa 100 Pfund (Anm.: ca. 45 Kilogramm) schwerer als heute. Ich habe zwei Packungen Zigaretten am Tag geraucht und nahm Antidepressiva. Mein Leben war ein Fiasko. Eines Tages habe ich einen Blick auf meine Web-History geworfen und festgestellt, dass die Maschinen mehr über mich wissen als ich. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe Artikel über die "Quantified Self"-Bewegung gelesen. (Anm.: Mithilfe von Apps und sensorbestückten Gadgets analysieren die Anhänger unter anderem ihre Verhaltensweisen, um ihre Lebensqualität und Leistung zu verbessern.) Um mein Leben zu ändern, begann ich, mich selbst genau zu beobachten und meine Erkenntnisse niederzuschreiben. Ich wollte ein System entwickeln, das mir persönlich - vor allem im Sinne von Wohlfühlen und Gesundheit - zugutekommt. Heute halte ich Vorträge darüber und unterrichte an Universitäten, um Ärzten zu demonstrieren, wie man Menschen helfen kann, indem man ihr Smartphone auswertet und damit ihre Gewohnheiten und ihr Verhalten analysieren kann.

Was entdeckt man da?

Ganz einfache Dinge. Heutzutage sprechen junge Leute nicht mehr viel miteinander, aber sie agieren mit ihren Smartphones. Sie fotografieren, posten, teilen mit. Hören Menschen damit auf, dann ist das ein erstes Anzeichen dafür, dass sie sich nicht gut fühlen. Diese Veränderung sollte einem demnach Sorge bereiten. Die Verhaltensweisen geben Auskunft über psychische und physische Auffälligkeiten.

Aufgrund Ihrer technischen Ausstattung sind körperliche Reaktionen, die Emotionen verursachen, nicht nur fühlbar, sondern werden auch sichtbar. Macht das noch empathischer?

Ich habe erkannt, dass ich überempfindlich bin, aber auch besonders empathisch. Ich nehme Töne, Temperatur, Licht oder auch Atemgeräusche intensiv wahr, sodass es unmöglich wurde, das nicht zu merken. Das ist sehr belastend. Ich musste lernen, mich davon zu distanzieren. Gefühlsbetonter und einfühlsamer kann ich dann sein, wenn die umgebungsbedingten Konditionen passen.

Welche Applikationen sind besonders wichtig für Sie?

Ich teile das in verschiedene Bereiche. Etwa das Biologische. Ich registriere meine Herzrate, die Körpertemperatur, meine Atmung und meine Ernährung. Im Umgang mit der Welt sind Daten über die Luftqualität, die UV-Strahlung, der Mond oder die Tageszeit wichtig. Ich versuche, all diese Information zu nutzen, um mich in die richtige Position zu begeben, geerdeter zu sein. Und ich habe gelernt, dass uns die Technologie dabei helfen kann, den Fokus zu erweitern und Fähigkeiten zu verbessern. Tun müssen wir aber selbst.

Digital Detox ist in Mode. Die Menschen wollen sich dem Stress entziehen, der ihnen die Technologie bereitet. Fühlen Sie sich auch gestresst?

Ich bin angespannter, wenn ich versuche, Digital Detox zu betreiben - etwa im Urlaub völlig offline zu sein. Ein verrücktes Beispiel ist die Hochzeitsreise mit meinem Partner. Ich habe versucht, es ruhig anzugehen und auf mein Smartphone zu verzichten. Ich musste eine Reise mit Dingen planen, ohne Technologie zu benötigen. Das war ein Stress. Man muss Leute um Hilfe fragen. Und die sehen einen an, als wäre man verrückt. Ich verstehe, dass die Menschen gestresst sind. Deshalb müssen wir einen Weg finden, wie wir uns wohlfühlen können, auch wenn wir digital vernetzt sind. Für den Urlaub habe ich seither einen eigenen reduzierten Modus eingerichtet.

Wo stehen wir in zehn Jahren?

Ich denke, wir sind schon da. In zehn Jahren brauchen wir nicht mehr darüber sprechen. Es ist ein Teil von uns. Doch eines bereitet mir Sorge: Wer wird die Menschen in 10, 20 oder 30 Jahren lehren, wer wir einmal waren? Denn wir verändern uns rasant. Das Fernsehen hat Generationen verändert. Davor hat das Radio Generationen verändert. Doch das waren physische Dinge. Digitale Technik verändert exponentiell schneller. Ich hoffe, dass wir uns in 30 Jahren noch der Geschichte des Menschen besinnen und dessen Werte und wie wir uns entwickelt haben.

Wie sieht das Bild der Zukunft aus? Positiv oder negativ?

Ich sage weder gut noch schlecht. Denn wir haben nur eine Aufgabe im Leben - zu sterben. Alles andere sind Entscheidungen. Das Einzige, das ich tun muss, ist, sicherzugehen, dass ich die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffe. Manchmal verwende ich dafür eben Apps. Es stresst mich, wenn sich Menschen Sorgen machen. Ich verstehe sie. Doch sie sollten beginnen, wieder zu leben. Jeder wartet nur auf die Zukunft. Die Menschen sind richtig einverleibt von ihr. Doch sie passiert jetzt - hier und heute.

Sind Sie heute mehr Mensch oder Maschine?

Ich denke, ich bin wie jeder andere Mensch auch. Nur kenne ich die Grenzen. Ich kann ein Supermensch sein oder eine Supermaschine. Auf jeden Fall bin ich heute mehr Mensch als die ältere Version von mir. Ich denke, es gibt keinen Unterschied zwischen uns, außer dass ich die Nase vorn habe.

Zur Person~Chris Dancy ist der wohl vernetzteste Mensch auf Erden. Der 51-jährige New Yorker tourt als Vortragender rund um die Welt, hält Workshops auch an Universitäten. Beim "Fifteen Seconds Festival 2019" in Graz fungierte er als Speaker. In seinem Buch "Don’t Unplug" zeigt er auf, wie Technologie sein Leben gerettet hat.